Teures Deutsche-Bahn-Debakel
25. August 2017Hunderttausende Tonnen Güter und tausende Passagiere - alles, was mit der Bahn aus Skandinavien, den Niederlanden, Belgien oder Großbritannien über die Schweiz nach Italien und Südeuropa transportiert wird, müsste eigentlich über das Schienen-Nadelöhr von Rastatt nach Basel geführt werden. Doch die Schienen bei Rastatt sind kaputt, weil ein über 4000 Meter langer Tunnel unter der seit 1855 in Betrieb befindlichen Strecke zusammengebrochen ist. Zwei- bis dreihundert Züge am Tag können nicht mehr fahren. Vorbei mit dem Bahnrauschen im Takt, alle sieben Minuten.
Passagiere müssen lange warten
Es ist nicht einfach: "Unter einer Stunde Verspätung geht kaum etwas", berichtet Karl-Peter Naumann, Sprecher des Fahrgastverbandes Pro Bahn, auf Nachfrage der DW. Für Europareisende in Deutschland kann Naumann feststellen: Insgesamt habe man die Notfallsituation für Zugpassagiere einigermaßen im Griff. Eine Schienenroute über Ulm nach Friedrichshafen böte noch eine Alternative zum Auto. Auch das koste natürlich Zeit. Die Deutsche Bahn stellt Ersatzbusse für Reisende auf zeitlich kürzeren Strecken rund um Rastatt. "Das geht so einigermaßen", sagt Naumann. Man komme so wenigstens in alle Richtungen weiter.
Der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC) berichtet, dass es durch die Verlagerung des Schienenverkehrs auf die Straße noch nicht zu größeren Staus gekommen sei. Was aber passiert, wenn in Bayern und Baden-Württemberg Anfang September die Sommerferien zu Ende gehen? Verkehrsexperten sehen zudem mit großer Sorge dem entgegen, was Transportunternehmen befürchten.
"Land unter" bei Bahn-Transportunternehmen
Weil der Warentransport durch die Schweiz über die Schiene am schnellsten und günstigsten geht, sind hauptsächlich Schweizer Transportunternehmen betroffen. "Wir bräuchten 15.000 bis 20.000 LKW und noch mal so viele Fahrer, um das zu ersetzen, was wir im Augenblick nicht auf der Schiene nach Italien und ins restliche Südeuropa transportieren können", sagt Irmtraud Tonndorf, Kommunikationschefin des Schweizer Container-Unternehmens Hupac. Auf den Euro genau könne sie noch keine Angabe zur Schadenssumme machen, weil man intern noch nicht zum Rechnen kam. Alle Mitarbeiter würden rund um die Uhr an einer Lösung arbeiten. So sucht Tonndorf nach anderen Zahlen, um vorstellbar zu machen, was die Rastatter Baustelle bedeutet.
"Wir konnten anfangs nur ein Zehntel unserer Züge fahren lassen, sind jetzt erst bei 30 bis 35 Prozent der Volumen, die wir fahren könnten." Angestrebt seien wenigstens 50 Prozent. "Wir haben gigantische Verluste von derzeit 50 bis 60 Prozent unseres Umsatzes." Auch die Konkurrenz stöhnt. Stefanie Burri bei BLS Cargo in Bern spricht von einer "Katastrophe". Contargo-Geschäftsführer Daniel Kaufmann in Basel merkt an, dass alle Ausweichmöglichkeiten immense Zusatzkosten verursachen. Bahnwagen stehen, das koste Standgebühren. An zusätzlichen Verladeterminals müssten Krane erst einmal installiert werden. Umleitungsstrecken seien mindestens 20 Prozent teurer.
Versorgungsengpässe - die europäische Dimension
Verderbliche Ware wie Milch für die Produktion von Käse oder Weintrauben aus Italien müssen schnell transportiert werden. Eine längere Zwischenlagerung bis Anfang Oktober halten die Transportunternehmen für reine Illusion. Neben Nahrungsmitteln und Medikamenten werden aus Sicherheitsgründen viele Chemikalien mit der Bahn transportiert. "Wenn die Rohstoffe wie auch Teile für die Autoindustrie nicht geliefert werden können, liegen Produktionsausfälle auf der Hand", schildert Tonndorf von Hupac. Arbeitsplätze seien bedroht, wenn der jetzige Zeitplan in Rastatt zur Schienenreparatur nicht eingehalten werden könne. Das sieht der Verkehrsminister von Baden-Württemberg, Winfried Hermann, ähnlich. Er bemängelte gegenüber der Zeitung "Mannheimer Morgen", dass es keinen wirklichen Krisenplan gebe.
Als großes Problem bezeichnen alle Transportunternehmer den Erfolg der Schweiz, den Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlegen. Das habe so gut funktioniert, dass 70 Prozent des Warenverkehrs durch die Alpen inzwischen mit der Bahn transportiert werden. "40 bis 50 Prozent der Güter von Nordeuropa nach Italien und dem weiteren Süden können daher derzeit nicht via Schweiz abgewickelt werden", bestätigt Irmtraud Tonndorf.
Warum Alternativen nicht funktionieren
Experten glauben, dass auch Alternativen wie LKW, Schiffe oder andere Zugrouten schlecht funktionieren. Beispiel LKW: Die Anzahl der benötigten LKW steht nicht zur Verfügung. Es gebe zwar Angebote von Transportunternehmen, den Bahntransportfirmen mit zusätzlichen Lastern zu helfen. "Die LKW-Besitzer wollen dann aber meist Ein- oder Mehrjahresverträge abschließen", erklärt Tonndorf bei Hupac. Auch Stefanie Burri bei BLS Cargo kennt das. Die Befürchtung sei, dass Kunden bei derart langfristigen Verträgen auch länger dem Bahntransport fern blieben.
Beispiel Schiffe: Man habe zwar jetzt schon einen kleinen Teil der Fracht mit Bahn und Schiff transportiert, aber das setze geeignete Boxen voraus. Man benötige maritime, also stapelbare Container, erklären die Bahntransportunternehmen. Chris Engeler, bei Panalpina zuständig für die Seefracht, führt an, dass die Charterpreise höher sind und Kunden Preiszuschläge auf Container zu zahlen hätten.
Beispiel andere Zugrouten: Frankreich wäre eine denkbare Alternative. Dort dürfen aber nur Lokführer fahren, die perfekt zweisprachig sind. Das wird überprüft. Außerdem ist nur zugelassen, wer gesicherte Streckenkenntnisse hat. Von diesen Lokführern gibt es nur eine begrenzte Anzahl, die derzeit ausgebucht ist. In Österreich gibt es viele Streckenabschnitte, die nicht elektrifiziert sind. Ohne Oberleitungen werden also zusätzlich Dieselloks benötigt. Auch das ist ein Problem. An Ausweichrouten gibt es zur Zeit viele nahezu unpassierbare Baustellen. Hinzu kommt: Auf vielen Streckenabschnitten ist noch nie ein Güterzug gefahren, sondern immer nur Personenzüge. Ungelöste Sicherheitsfragen stehen an.
Hoffnung auf Schadensersatz
Irmtraud Tonndorf und viele ihrer Cargo-Kollegen sind zuversichtlich, dass es eine Entschädigung "unter europäischer Regie" geben wird. Alle Partner müssten dazu an einen Tisch und gemeinsam überlegen, wie eine Kompensation aussehen könne. Die Deutsche Bahn (DB) wolle man zunächst aber nicht in Regress nehmen. "Wir sehen die volle Unterstützung von DB- Netz und DB-Cargo, alles möglich zu machen." Bei einem Erdrutsch im Jahr 2012 im schweizerischen Gurtnellen habe es finanzielle Unterstützung gegeben. Eine solche Hilfe fordert jetzt der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. Es müsse Schluss sein mit Einzellösungen. "Europa muss bei der Bahn ankommen."