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Politik

Thailands Jugend stellt die Systemfrage

22. September 2020

Die aktuellen Proteste in Thailand unterscheiden sich von den politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte. Es geht um eine grundlegende Erneuerung. Besteht Aussicht auf Erfolg?

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Thailand Bangkok Pro-Demokratie-Proteste
Bild: Mladen Antonov/AFP

Am Wochenende hatten sich mehrere zehntausend Menschen in der Altstadt von Bangkok versammelt, um gegen die Regierung und die Monarchie zu demonstrieren. Die Demonstrationen erhalten seit Wochen immer mehr Zulauf. Die Kernforderungen sind die Auflösung des Parlaments, die Erarbeitung einer neuen Verfassung und ein Ende der Einschüchterung der Bürger. Anfang August wurden die Forderungen um zehn Punkte zur Reform der Monarchie erweitert. Für Thailand ist das ein ungeheuerlicher Tabubruch, der den Studierenden jedoch einen ungeahnten Zulauf beschert.

Am Sonntag installierten  die Demonstranten auf dem Sanam-Luang Platz vor dem Königspalast eine goldfarbene Metallplakette von der Größe eines Tellers, die den Dreifingergruß aus dem Hollwoodblockbuster "Tribute von Panem" zeigt, der zum Symbol der Bewegung geworden ist. Die darauf angebrachte Inschrift bedeutet: "Das Land gehört dem Volk." Die Plakette hat einen wichtigen symbolischen Bezug, denn sie ähnelt einer Gedenktafel, die an die Einführung der konstitutionellen Monarchie 1932 erinnerte. 2017 war sie über Nacht verschwunden. Die neue Gedenktafel hat keine 24 Stunden überstanden. Inzwischen ist auf dem Platz vor dem Königspalast nur noch ein Loch im Zement zu sehen.

Sechs Vertreter der Protestbewegung drücken eine goldene Gedenktafel in den Zement am Sanam Luang Platz in Bangkok
Die neue Gedenktafel auf dem Sanam Luang Platz in Bangkok erklärt, dass das Land dem Volk gehört. Keine 24 Stunden nach der Installation wurde sie demontiertBild: Sakchai Lalit/AP Photo/picture-alliance

Ebenfalls am Sonntag überreichte die Aktivistin Panusaya Sithijirawattanakul den Sicherheitsbehörden einen Brief mit Vorschlägen zur Reform der Monarchie. Diese sagten zu, den Brief an den Königsrat weiterzuleiten, ein Gremium, das den König berät. In dem Schreiben wird unter anderem gefordert: Das umstrittene Gesetz, das Majestätsbeleidigung unter Strafe stellt, soll abgeschafft, die königliche Macht der thailändischen Verfassung und das königlichem Vermögen – geschätzte 40 Milliarden US-Dollar – staatlicher Kontrolle unterworfen werden.

Keine Gefühle für die Monarchie

Noch vor wenigen Monaten hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass Teile der thailändischen Gesellschaft den Status der Monarchie grundsätzlich und in aller Öffentlichkeit infrage stellen. Eine solche Forderung konnte nur aus der Jugend kommen, die keinerlei sentimentale Gefühle für den König und die Monarchie hegen, wie Hathairat Phaholtap und David Streckfuß auf der Webseite "New Mandala" der Australischen Nationaluniversität schreiben.

Diese junge Generation von Aktivisten ist auch nicht belastet von Thailands politischem Erbe, das über Jahrzehnte von zwei Lagern, Massendemonstrationen, Militärputschen und erzwungenen Regierungswechseln geprägt war. Auf der einen Seite stand die konservative und königstreue urbane Elite, auf der anderen die oft armen, aus den ländlichen Regionen stammenden Anhänger des im Exil lebenden Populisten und Milliardärs Thaksin Shinawatra.

Die Krönung von Maha Vajiralongkorn im Mai 2019 in Bangkok.
Thailands König Rama X., hier bei seiner Krönung 2019, lebt die meiste Zeit in Deutschland. Sein verschwenderischer Lebensstil und seinen sexuellen Eskapaden machen es selbst seinen Anhängern schwierig, den König zu verteidigenBild: Reuters/J. Silva

Der Thailand-Experten Wolfram Schaffar, der an der Universität Tübingen lehrt, sagte der Deutschen Welle: "Die Organisatoren und Sprecher der aktuellen Proteste sind von der Geschichte nicht vorbelastet. Das macht auch ihren Charme aus. Sie sind jung, unverblümt und stellen pointierte Forderungen, die bisher niemand gewagt hat zu stellen." Gleichzeitig sind die Forderungen in engem Kontakt mit kritischen Juristen und Historikern abgestimmt und so professionell formuliert, dass sie quasi direkt als Gesetzesvorlage dienen könnten.

Ihr politisches Bewusstsein ist erwacht, als sie 2019 zum ersten Mal in ihrem Leben wählen durften, aber feststellen mussten, dass das politische System vollkommen korrupt ist, wie Schaffar sagt. Viele von ihnen wählten bei der von der Militärregierung manipulierten Wahl die "Future Forward Partei" (FFP). Die Partei erhielt 17,3 Prozent der Stimmen, wurde kurz nach der Wahl aber wegen angeblicher finanzieller Unregelmäßigkeiten vom Verfassungsgericht aufgelöst. Nach ihrer Auflösung fühlten sich die überwiegend jungen Wähler um ihre Stimme betrogen und die Proteste nahmen ihren Anfang.

Forderung nach Gerechtigkeit und Respekt

Die nun vor allem von jungen Studenten angeführten Proteste treten nicht in erster Linie für eine bestimmte Partei an, sondern die Demonstranten fordern einen demokratischen Prozess und die Anerkennung der Gleichheit aller Thais, wie die Politologin Duanghathai Buranajaroenkij von der Mahidol Universität in Bangkok gegenüber der "New York Times" sagte: "Bei diesen Protesten geht es nicht darum, wer zukünftig der Führer Thailands sein wird, sondern die Frage, wie wir die Werte der Demokratie und die Würde aller Thais achten können."

Hinzu kommt nach Schaffars Ansicht, dass sich die Demonstranten von der seit vielen Jahren rapide wachsenden Ungleichheit im Land, die schon bei den früheren Protesten eine Rolle gespielt hat, erdrückt fühlen. "Die soziale Ungleichheit hat Formen eines neuen Feudalismus angenommen. Der Angriff auf die Monarchie als prominentestes Symbol dieser Ungleichheit ist da nur folgerichtig."

Wie geht es weiter?

Vor allem die Kritik an der Monarchie stellt für die herrschende Elite in Thailand eine vor kurzem noch unvorstellbare Herausforderung dar. Bisher haben sich Regierungen, Sicherheitskräfte und Militär zurückgehalten, auch wenn viele Demonstrationsführer und Aktivisten kurzzeitig verhaftet wurden. Ex-General und Premier Prayuth Chan Ocha mache insgesamt keine gute Figur, sagt Schaffar. "Die Regierung ist meiner Ansicht nach in der Defensive. Die jungen Studenten haben sich nicht einschüchtern lassen. Prayuth steht mit dem Rücken zur Wand, weil er – vor allem auch in den Augen seiner eigenen Leute und in den Augen des Königs – die Lage nicht im Griff hat."

Prayuth Chan Ocha lächelt auf dem Weg in ein Regierungsgebäude in Bangkok
Bisher hat sich die Regierung um Premierminister Prayuth Chan Ocha zurückgehaltenBild: picture-alliance/AP Photo/S. Lalit

Daher ist eine Überreaktion und eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste nicht auszuschließen. Angesichts der Tatsache, dass sich ein wichtiger Teil der Demonstranten aus der vermögenden Mittel- und Oberschicht der Großstädte rekrutiert, scheint das aber nicht wahrscheinlich. Es ist bisher nämlich nicht gelungen, die Demonstranten als "gefährliche Extremisten" oder "asoziale Elemente" zu diffamieren, auch wenn es Versuche gegeben hat, ihren Nationalstolz infrage zu stellen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre eine Art runder Tisch und die Suche nach einem Ausgleich noch möglich, sagt Schaffar. "Die Kritik an der Monarchie mag im thailändischen Kontext radikal erscheinen. Aber es geht 'nur' um die Durchsetzung eines demokratischen Standards, den es in Thailand mit einigen Abstrichen schon einmal gegeben hat. Je länger die Eliten warten, desto wahrscheinlicher wird eine gewaltsame Konfrontation, und desto höher wird der Preis für alle Seiten."

Für den 14. Oktober haben die Demonstranten einen Generalstreik angekündigt.

 

Rodion Ebbinghausen DW Mitarbeiterfoto
Rodion Ebbighausen Redakteur der Programs for Asia