Thanksgiving, diesmal kein Familienfest
26. November 2020Hayley Marks aus Hortonville, Wisconsin hätte an diesem Donnerstag eigentlich die Familie ihres Mannes zu Besuch gehabt. Wie unzählige andere US-Amerikaner wollte die Familie Thanksgiving, einen der wichtigsten Feiertage in den USA, gemeinsam verbringen. Aber die Familienzusammenkunft fällt aus, erklärt die Krankenschwester. "Wir haben uns entschlossen, abzusagen, weil ich zu viel arbeiten musste - und wegen COVID."
Wisconsin ist einer der Bundesstaaten im Mittleren Westen der USA, wo das Coronavirus aktuell am schlimmsten wütet. Statt Großeltern, Cousins und Geschwister im Haus zu haben, wird Marks den Tag also nur mit ihrem Mann Mike und den Kindern Noah (5) und Autumn (3) verbringen.
"Wir werden den ganzen Tag unsere Schlafanzüge anhaben, etwas Leckeres essen und wahrscheinlich Weihnachtsfilme schauen", sagt die 33-Jährige. "Noah hat sich das meiste davon überlegt, aber ich war mehr als einverstanden." Auf die Frage, wie viele Gäste gekommen wären, wenn die Pandemie nicht dazwischengefunkt hätte, antwortet Marks: "Wahrscheinlich um die 30. Und sieben davon unter zehn Jahre alt."
Reisewarnung zu Thanksgiving
Wegen genau solcher Familientreffen ist unter Experten die Sorge vor einem weiteren rapiden Anstieg der COVID-Fallzahlen nach Thanksgiving groß. Der Erntedank-Feiertag ist in den USA eine genauso große Sache wie Weihnachten - viele Menschen mögen ihn sogar lieber. Fast 20 Prozent nannten Thanksgiving in einer Umfrage von 2015 ihren Lieblingsfeiertag.
Normalerweise kommt an diesem letzten Donnerstag im November die ganze Familie zusammen, um Truthahn und Kürbiskuchen zu essen, und um zu sagen, wofür man dankbar ist. Stress wie an Weihnachten, zum Beispiel darüber, wer den schönsten Weihnachtsbaum oder die teuersten Präsente hat, gibt es nicht. Stattdessen steht an Thanksgiving die Zeit mit lieben Menschen im Vordergrund, die man sonst nur selten sieht.
Viele US-Amerikaner reisen quer durchs Land, um an diesem Tag bei ihrer Familie zu sein. Normalerweise. Im Corona-Jahr 2020 raten Experten davon dringend ab. Die "Centers for Disease Control and Prevention" (CDC), so etwas wie das Gesundheitsamt der USA, warnte US-Bürger am Donnerstag eindringlich vor Reisen zu Thanksgiving.
"In den vergangenen sieben Tagen wurden in den Vereinigten Staaten mehr als eine Million Fälle von COVID-19 gemeldet," teilte die CDC genau eine Woche vor Thanksgiving auf ihrer Informationsseite zum Thema mit. "In Anbetracht dieser rapide steigenden Fallzahlen im ganzen Land ist der sicherste Weg, Thanksgiving zu feiern, zuhause mit den Menschen, die mit Ihnen leben."
Nacht ohne Whiskey
Sarita Null aus Austin, Texas, wollte sich an Thanksgiving ins Auto setzen und zu ihrer Familie ins drei Stunden entfernte Refugio fahren - ihren Bundesstaat hätte sie dafür nicht verlassen müssen. Aber auch diese kurze Reise fiel aus, nachdem die 58-Jährige Anfang November mit Atemnot ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
Wie sie später herausfand, handelte es sich zwar nicht um COVID, sondern um eine Lungenentzündung. Aber das Gefühl, nicht atmen zu können, war für Null trotzdem hart. "Es fühlt sich an, als würdest du ertrinken", erzählt sie. "Ich bin relativ ruhig geblieben, aber als es nach mehreren Stunden in der Notaufnahme mit Sauerstoff nicht besser wurde, habe ich Angst bekommen." Nachdem ihre Sauerstoff-Dosis erhöht wurde, ging es endlich bergauf. Nach sechs Tagen wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen.
Als ehemalige Brustkrebspatientin mit einem geschwächten Immunsystem gehörte die Finanzberaterin sowieso schon zur Risikogruppe. Der Krankenhausaufenthalt hat sie endgültig davon überzeugt, dieses Thanksgiving nicht zum großen Familientreffen mit ihren Geschwistern und deren Kindern und Enkelkindern zu fahren. "Am meisten vermissen werde ich unsere Unterhaltungen, wenn wir bis in die frühen Morgenstunden bei einem Glas Whiskey reden", sagt Null.
Stattdessen kommt nur eine Freundin zum Abendessen vorbei. Dass sie den Rest des langen Feiertagswochenendes allein ist, macht Null nicht allzu viel aus. "Ich kann sehr gut mit mir alleine sein", sagt sie. "Ich werde nicht einsam."
Hilfe für einsame Senioren
Viele gerade ältere Menschen aber leiden unter dem Alleinsein seit Beginn der Pandemie. Wenn dann noch die Familie den vielleicht einzigen Besuch des Jahres aus Vorsicht absagen muss, tut das weh. Für Senioren, denen dieses Jahr ein trauriges Thanksgiving bevorsteht, hat sich Mark Bucher, der Besitzer der Restaurantkette Medium Rare in Washington DC und Umgebung etwas überlegt.
Bucher und sein Team haben in den Tagen vor Thanksgiving gratis Mahlzeiten an Senioren im Großraum Washington geliefert, die den Feiertag allein verbringen müssen. Verwandte konnten ihre Eltern oder Großeltern online anmelden. Das Echo auf den Tweet, in dem er die Aktion ankündigte, war überwältigend. "Wir haben ursprünglich gedacht, wir werden einige hundert Essen ausliefern. Gestern Abend waren wir dann bei 3000", sagte Bucher am Dienstag.
Die Fahrer haben die Erfahrung gemacht, dass die Freude der Senioren bei der Lieferung des Essens groß ist. "Die Menschen weinen an ihrer Haustür, sie können nicht fassen, dass jemand an sie gedacht hat", erzählt er. Selbst wer Grundnahrungsmittel im Haus hat, sei begeistert über das gelieferte Festmahl, denn: "Wenn es eine Mahlzeit gibt, die man unmöglich nur für eine Person machen kann, dann ist es das Thanksgiving Essen" bestehend aus Truthahn, dem traditionellen "Stuffing" und verschiedenen Beilagen.
Da in der Pandemie viele US-Amerikaner ihre Jobs verloren haben, ist Hunger ein immer größeres Problem. Viele Hilfsorganisation organisieren Essensausgaben, vor denen sich lange Schlangen bilden. Damit ist Senioren, einer der Corona-Hochrisikogruppen, aber nicht geholfen, sagt Bucher. "Die älteren Menschen verlassen ihre Wohnung nicht. Sie kommen nicht zum Essen hin." Er freut er sich, zumindest an Thanksgiving dafür sorgen zu können, dass das Essen zu ihnen kommt.
Premiere in der Küche
Auch Sarah Wilhelm aus Appleton, Wisconsin wird dieses Jahr zu Thanksgiving Essen ausfahren, allerdings in kleinerem Rahmen. Die 32-Jährige und ihr Mann Andrew haben die Familienbesuche dieses Jahr abgesagt. "Normalerweise sehen wir an Thanksgiving immer meine und seine Eltern", sagt die Projektkoordinatorin einer Telekommunikationsfirma. "Mittagessen bei einer Familie, Abendessen bei der anderen." Aufgrund der rapide steigenden Anzahl der COVID-Fälle fällt das dieses Jahr aus. "Aber ich möchte trotzdem, dass der Tag etwas Besonderes ist."
Deswegen wird sie Kekse und die typischen Pies backen und sie ihren Familienmitgliedern vorbeibringen. Auf der Liste stehen ihre Eltern und ihre Schwiegereltern, zwei Großmütter und mindestens ein Schwager. Gerade die Verwandten, die den Feiertag ganz allein verbringen, soll die kleine Aufmerksamkeit aufheitern, sagt Wilhelm.
Für sie selbst steht an diesem Corona-Thanksgiving noch eine Premiere an. Wilhelm wird zum ersten Mal ein traditionelles Feiertagsessen zubereiten. "Das habe ich noch nie gemacht", erzählt sie mit einem Lachen. "Ich bin 32 Jahre alt und bisher hat meine Mutter immer an Thanksgiving gekocht." Sie sieht die Mahlzeit für sie und ihren Mann als einen Probelauf. Falls es gut läuft, wird sie zum Festtagsmenü beitragen, wenn die Pandemie vorbei ist und die ganze Familie wieder zusammen feiern kann.