"Fronttheater" aus Leipzig
11. Juni 2013"Halt! Was wollt ihr? Hier ist Sperrgebiet. Nicht näher kommen! Ich schieße, wenn ihr näher kommt. Ich habe eine Waffe, irgendwo." Die irre Soldatin im hohen Gras sieht mitgenommen aus. Ihre Waffe hat sie wohl verloren, ihr Militärrock ist verrutscht. Hektisch rennt sie kreuz und quer über das Feld, stürzt, steht wieder auf und versucht schreiend mittels Megaphon, die kleine Besuchergruppe von ihrem Posten fernzuhalten. Doch die Gäste wollen nicht wegbleiben, schließlich haben sie Eintritt dafür gezahlt, der Front so nah wie möglich zu sein.
Auf der Suche nach der Front
Diese eine von insgesamt sieben Szenen am ersten, verregneten Theaterabend ist ein wirres Schauspiel einer Wahnsinnigen im Kriegszustand. Immer wieder fragt sie, wo denn nun die Front sei. "Habt ihr was gehört? Hört ihr das auch, diese Stille in dieser Stadt?" Das ist eher schwierig. Denn direkt hinter der Soldatin ist die Spielfläche, das Jahrtausendfeld im Leipziger Westen, zu Ende. Autos rollen über die angrenzende Hauptstraße.
Vor 200 Jahren war die Frage nach der Front in Leipzig leichter zu beantworten. Vom 16. bis 19. Oktober 1813 standen sich vor den Toren Leipzigs riesige Heere gegenüber, Österreicher und Russen kämpften gemeinsam mit Preußen gegen die Italiener und Franzosen um Napoleon Bonaparte. In nur wenigen Tagen wurden von etwa 600.000 Soldaten auf dem Schlachtfeld 92.000 getötet oder verwundet. Auch das "Millennium Front Theater" auf dem Jahrtausendfeld ist international besetzt: Kroatische, russische, niederländische und italienische Autoren sind dabei. Deutsche, Franzosen, Dänen und Letten kämpfen mit Worten statt Kanonen.
Probe im Bauwagen
Zehn Schauspieler, acht Autoren, ein Regisseur und eine hügelige, zugewachsene Spielwiese so groß wie ein Fußballfeld, dazu ein paar Zelte mit Feldbett, ein Bunker und drei Wochen Zeit, ein neues Bühnenprojekt zum Thema Völkerschlachten zu entwickeln. Ein groß angelegtes Experiment. Oder besser die "Fiktion einer umfassenden Frontsuche", wie Frank Heuel es nennt. Das "Millennium Front Theater" brauche die Front, erklärt der Regisseur des Projekts, so wie das Theater die Fronten des Lebens brauche und die großen Fronten der Kriege. "Ohne die Krisen, ohne das durchaus Menschliche, woher auch immer der Streit, der Kampf kommt, würde es die Themen nicht geben, die wir im Theater bearbeiten", meint Heuel.
Ein interessanter Ansatz. Zwei Tage später, Besuch im Theater-Camp. Es ist kurz nach 11 Uhr, das Ensemble diskutiert gerade über einzelne Texte der Autoren, probt Szenen und Dialoge. Sie sitzen im Bauwagen, weil es draußen immer wieder heftig regnet. Jeder Text kommt auf den Prüfstand, wird hinterfragt, später wird draußen im Gelände geprobt.
Europäische und nationale Sichtweise
Die Autoren, drei sind es momentan, ringen um ihre Haltung zum Krieg. Einige sind mit einem Grundgerüst gekommen, mit Textfragmenten oder fast fertigen Szenen. Andere sammeln erste Eindrücke vor Ort. Wie Lothar Kittstein, der rund um das Jahrtausendfeld nach Konfliktlinien suchte und schließlich Aushänge fand. Auf denen fahndet eine Frau aus Leipzig nach einem Stalker, der sie belästigt und bedroht. "Sie beschimpft ihn öffentlich auf diesen Plakaten, will ihn aus der Stadt verjagen", so der Autor. Hier im Camp will er diesen Konflikt öffentlich machen, eine Frontlinie zeigen, die den "Krieg im engeren Sinne" zeigt. "Gewalt versteckt sich heute ganz stark im Alltag. Ich will diesen Kriegsbegriff ausweiten und gucken, wo diese Fronten verlaufen", erklärt Kittstein.
Alle Texte, die in diesem dreiwöchigen Camp entstehen, werden im Oktober 2013 noch einmal gesammelt in Leipzig aufgeführt. In etwa einem Jahr soll es dazu ein Bühnenstück geben. "Natürlich kommen andere Themen, wenn ein russischer Autor zur Völkerschlacht etwas denkt und schreibt, als wenn die Italienerin etwas liefert", sagt Regisseur Heuel. Alle seien Europäer, doch ihre Sichtweise sei auch durch ihre eigenen nationalen Identitäten geprägt.
"Unsere Front ist das Wort"
Vier abendfüllende Vorstellungen pro Woche, dazu in der ersten permanent Regen und trotzdem Besucher. Die Campidee funktioniert. Rund um Leipzig schwellen derweil die Flüsse an. Für die letzten beiden Wochen kommen neue Autoren, Schauspieler und Szenen haben gewechselt. Gerade entflammt eine kurze Diskussion, ob das Ensemble nicht an die wahre Front ausrücken sollte, zum Sandsäcke schleppen auf den Deich. Nichts da, meint Heuel. "Unser Dienst ist nicht das Hochwasser! Wir sind das Millennium Front Theater, und unsere Front ist das Wort, um das wir gerade ringen."
Und so ringen sie weiter, während draußen auf der Hauptstraße die Feuerwehr mit Blaulicht vorbeirauscht, unterwegs zum nächsten Deichbruch. Ausnahmezustand in Sachsen, doch die Theaterarbeit im Camp geht weiter. Die Frage nach der Front ist und bleibt eine Frage des Blickwinkels.