Olympische Spiele 1988 in Seoul, die Nachricht schlägt ein wie eine Bombe: Ben Johnson gedopt! Im Urin des frischgebackenen 100-Meter-Olympiasiegers ist das anabole Steroid Stanozolol nachgewiesen worden. Knapp drei Tage zuvor, am 24. September, hat der kanadische Sprinter in einem denkwürdigen Finale nicht nur seinen großen Rivalen, den US-Star Carl Lewis, klar hinter sich gelassen, sondern auch mit 9,79 Sekunden einen Fabel-Weltrekord aufgestellt.
DW: Welche Bedeutung hatte der Fall Ben Johnson für den Kampf gegen Doping?
Professor Mario Thevis: Es war einer der ersten großen Fälle mit anabolen Wirkstoffen bei Olympischen Spielen, die aufgedeckt werden konnten. So gesehen war es eine Initialzündung und, was die Substanz angeht, auch eine Pionierleistung der damaligen Dopinganalytiker, die unter anderem auch hier aus Köln stammten, Professor [Wilhelm] Schänzer und Professor [Manfred] Donike. Ich denke, es war ein historisches Ereignis.
War es damals einfach auch gelungen, die Athleten zu überraschen?
Auf jeden Fall. Bis dato war man der Meinung, dass man Substanzen wie Stanozolol kaum oder gar nicht finden kann, weil sie mit damaligen Mitteln sehr schwer nachzuweisen waren. Und somit ist hier sicher auch ein Überraschungserfolg gelungen.
Bei den Spielen in Seoul sollen auch deutsche Sportler mit anabolen Steroiden gedopt gewesen sein. Jedenfalls behauptet das die jüngste Dopingstudie, die hierzulande für so viel Aufsehen gesorgt hat.
Sofern zur damaligen Zeit diese Substanzen nicht nachgewiesen werden konnten, muss man davon ausgehen, dass es auch keine belastbaren analytischen Daten gibt. Ob das damals der Fall gewesen ist, kann ich aus dieser Position heraus nicht beurteilen. Aber analytisch waren zu dem Zeitpunkt offensichtlich keine weiteren Funde möglich.
Vielleicht konnte man damals nicht alle Wettbewerbe kontrollieren und hat sich deshalb speziell den 100-Meter-Lauf herausgepickt.
Es wurden sicher deutlich weniger Kontrollen genommen und weniger Athleten als heute getestet, aber man darf schon davon ausgehen, dass die Medaillenränge in den verschiedenen Sportarten grundsätzlich getestet wurden. Aber - das muss ich noch einmal betonen - die analytischen Möglichkeiten waren 1988 deutlich schlechter, als sie es heutzutage sind.
Später wurden sechs der acht Sprinter des 100-Meter-Finals von Seoul als Doper enttarnt, wenn auch nicht unbedingt in diesem Rennen. Ben Johnson hat sich von Anfang an als Sündenbock dargestellt, war er das in gewisser Weise auch?
Das ist schwer zu sagen, aber es hat sich - wie Sie richtig betonten - herausgestellt, dass nicht nur er als derjenige herausgestellt werden darf, der sich Dopingmittel zunutze gemacht hat. Ob es in dem Rennen auch andere Dopingfälle hätten geben können oder müssen, sei dahingestellt. Aber es ist sicherlich richtig, dass uns die Geschichte nachher gelehrt hat, dass mehrere der Athleten, die hier an den Start gegangen sind, früher oder später auch zu Dopingmitteln gegriffen haben.
Wenn man an die jüngste Dopingfälle der Sprintstars Asafa Powell und Tyson Gay denkt, muss man fast sagen: Der 100-Meter-Sprint ist das Sorgenkind in Sachen Doping geblieben.
Das kann man so interpretieren. Es ist auf jeden Fall so, dass zahlreiche der Weltrekordler und Olympiasieger im 100-Meter-Lauf tatsächlich früher oder später des Dopings überführt wurden und dass in der Leichtathletik grundsätzlich ein Dopingproblem besteht. Das haben nicht erst die jüngsten Ergebnisse gezeigt.
Ben Johnson ist mit einem anabolen Steroid gedopt gewesen. Ist das immer noch ein Mittel, das angesagt ist, oder eher ein Auslaufmodell?
Ganz im Gegenteil. Die meisten Funde verbotener Substanzen in Dopingkontrollproben sind nach wie vor anabole Wirkstoffe. Obwohl hinlänglich bekannt ist, dass diese Substanzen, zumindest in gewissem Rahmen, sehr gut nachweisbar sind, sind sie offensichtlich nicht selten das Mittel der Wahl.
Spricht das nicht für die Dummheit der Athleten?
Das würde ich so nicht interpretieren. Man geht natürlich beim Missbrauch verschiedener Substanzen immer davon aus, dass man doch nicht oder nicht zum richtigen Zeitpunkt getestet wird. Mit den Verbesserungen in der Analytik haben wir jedoch immer längere Nachweisfenster auch nach Absetzung der Substanzen. Damit haben wir in den letzten Jahren auch immer bessere Möglichkeiten erhalten, dopenden Sportlern das Handwerk zu legen.
Der Fall Ben Johnson war ein Meilenstein im Kampf gegen Doping. Man hatte damals auch das Gefühl, dass vielleicht ein Bewusstseinswandel eingesetzt hat. In der vergangenen Woche beklagte die deutsche Anti-Doping-Agentur NADA, dass kaum Geld fließe, um den Kampf gegen Doping zu finanzieren. Wie passt das zusammen?
Es ist wahrscheinlich ein Problem, dass es zu jeder Zeit gegeben hat und immer geben wird, dass die finanziellen Möglichkeiten begrenzt sind. Aber wenn sie in einem Maße beschnitten werden, dass ein effektiver Anti-Doping-Kampf nicht mehr möglich ist, ist das besorgniserregend. Wir haben uns bislang in Deutschland im Kampf gegen Doping als sehr gut positioniert präsentieren können. Um das auch in Zukunft aufrechterhalten zu können, sind die finanziellen Mittel absolut erforderlich. Wenn wir sie nicht stemmen können, muss man davon ausgehen, dass die Qualität der Doping-Bekämpfung abnimmt.
Müssen Sie als Dopingjäger nicht die neue Bundesregierung auf diesen Punkt stoßen?
Das kann ich momentan noch nicht beurteilen. Wir werden allerdings immer wieder auf die Möglichkeiten des Anti-Doping-Kampfes hinweisen. Und wenn wir jetzt Forschungsgelder in bessere und effizientere Testverfahren investieren, kann das mittel- und langfristig auch dazu führen, dass wir die Kosten senken.
Professor Mario Thevis leitet das Zentrum für präventive Dopingforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Der 40 Jahre alte Biochemiker hat bei mehreren Olympischen Spielen als Dopingkontrolleur gearbeitet.
Das Interview führte Stefan Nestler.