Abschied von der "Mitte"?
19. Februar 2020Eine "Große Koalition" als Bündnis der beiden Volksparteien CDU und SPD mit einer - großen - Mehrheit galt in Deutschland lange als Inbegriff von politischer Stabilität. In dem kleinen ostdeutschen Bundesland Thüringen wäre gerade - rechnerisch - auch eine große Koalition möglich, aber zwischen Linkspartei und AfD, also den politischen Rändern. Die klassischen Mitte-Parteien zusammen sind nur noch in der Minderheit. Eine Koalition der Parteien an den Rändern wie in Italien 2018/19 ist in Deutschland allerdings ausgeschlossen. Diskutiert wird jedoch, ob sich die CDU den Rändern gegenüber öffnen sollte - was eigentlich von der Parteiführung verboten wurde. Denn der Verfassungsschutz beobachtet Teile von Linkspartei und AfD. Die ehemalige CDU-Ministerpräsidentin Lieberknecht fordert ihre Partei trotzdem zur Koalition mit den Linken auf, um die Staatskrise zu beenden.
Zurückgekehrt ist eine Polarisierung, die in West-Deutschland nach 1945 niemand mehr wollte. Nach der politisch instabilen Weimarer Republik und dem Zivilisationsbruch der NS-Diktatur sollte es "keine Experimente" mehr geben, forderte der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer. Im Grundgesetz wurde versucht, mit rechtlichen Mitteln politische Stabilität zu erzeugen. Deshalb sind zum Beispiel Misstrauensvoten gegen Regierungschefs nur dann erlaubt, wenn gleichzeitig auch ein Nachfolgekandidat mit einer Mehrheit zur Verfügung steht.
CDU und SPD als Parteien der politischen Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts, Konservatismus und Sozialdemokratie, gaben sich ein neues Etikett: "Volksparteien". Sie wollten ein Angebot für möglichst viele Bürger sein, dem Gemeinwohl und nicht einer bestimmten Klientel verpflichtet. Das nach der französischen Revolution 1789 populäre Rechts-Links-Schema mit seinen klaren Gegensätzen sollte zugunsten eines "dritten Weges" abgeschwächt werden. Der ausgleichende Begriff "soziale Marktwirtschaft" illustriert diesen Anspruch bestens. Der Weg wurde zum Erfolgsmodell.
Wahlen wurden in der Mitte gewonnen
Anfang der 1970er-Jahre tauchte in der Politik ein neuer Begriff auf: "Mitte" - und avancierte zu einem beliebten Wahlkampfslogan. Die Strategie dahinter: Die Mittelschicht, also die bürgerliche Mitte, sollte sich angesprochen fühlen. Typisch bürgerliche Werte wie Maß und Mitte, Konsens und Gleichgewicht standen hoch im Kurs.
Doch der Drang zur Mitte hatte schon immer Kritiker. Von einem "natürlichen Phänomen des Dualismus der Parteien" schrieb der französische Politikwissenschaftler Maurice Duverger schon 1959. In den USA, Großbritannien und Frankreich, also den ältesten Demokratien der Moderne, besteht dieser Dualismus seit Jahrhunderten: Zwei Hauptparteien in der Tradition von Links gegen Rechts kämpfen gegeneinander.
Angela Merkel führte als CDU-Parteivorsitzende und Kanzlerin den Mitte-Kurs weiter; die CDU sollte zum Synonym für "Mitte" werden. Gleichzeitig aber machte sich Merkels CDU, indem sie sozialdemokratische Themen okkupierte, in der Mitte ziemlich breit. Ehemalige konservative Profil-Themen der CDU - Atomkraft oder Wehrpflicht zum Beispiel - wurden dagegen aufgegeben. Schließlich galt es, Wahlen zu gewinnen, wie der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter im DW-Interview kürzlich sagte. Ohne Merkels Mitte-Kurs "wären wir seit 10 bis 15 Jahren in der Opposition". Doch das Mitte-Rezept zeigte Nebenwirkungen. "Auf der anderen Seite förderten wir eine Rechtsaußen-Partei", so Kiesewetter.
Die Baustellen der CDU
Und heute? Die alten Kampfbegriffe "rechts“ und "links" erleben mit der AfD und Linkspartei ein Revival. Das zeigt sich in aggressiven Debatten und verfeindeten Lagern. Was wird nun aus der "Mitte"?
Die Sozialdemokraten spielen im Moment eine untergeordneten Rolle, weil sie mit rund 15 Prozent in Umfragen ihren Volkspartei-Anspruch gerade verspielt haben.
Der begonnene Kampf um die Merkel-Nachfolge in der CDU dreht sich auch darum, ob und in welche Richtung die Mitte auszudehnen sei - wieder konservativer oder mehr nach links? Mit dem Altbekannten "Wir sind die Partei der Mitte" überschreibt Norbert Röttgen, einer der Bewerber, seine Agenda. Mit den anderen Bewerbern Jens Spahn und Friedrich Merz könnte es dagegen einen Schritt nach rechts geben.
In der "Mitte" lauert ein zweites Problem: Die Mittelschicht ist gespalten. Der modernere Teil, das urbane akademische Milieu, wählt inzwischen gern die Grünen, die seit einigen Jahren selbst auf bürgerlichem Mitte-Kurs sind. Diese Wähler würde die CDU mit einem Rechtsschwenk nicht zurückgewinnen.
Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt in einem kürzlich veröffentlichten Essay zwei Varianten, wie sich die konfliktreiche Situation auflösen könnte. Entweder schaffen die Mitte-Parteien es wieder, breite Teile der Wählerschaft zu integrieren. Oder aber es kommt zu einer Polarisierung wie zwischen Macron und Le Pen oder Trump und den Demokraten. In Thüringen ist Variante zwei bereits eingetreten. Die CDU versucht, die Situation einzufangen - bislang ohne Erfolg.