Der 4. Juni 1989 und China heute
4. Juni 2019Man möge den Möglichkeitssinn aktivieren. Was wäre gewesen, wenn? Wenn sich die chinesische Regierung - Deng Xiaoping als der "Architekt der Wirtschaftsreform" der 80er Jahre, der im Hintergrund die Fäden zog, und der damalige Premierminister Li Peng als sein Front-Mann - wenn sie sich 1989 nicht entschlossen hätten, die Armee gegen das eigene Volk einzusetzen? Hätte es Gespräche geben können, einen Runden Tisch wie Monate später in Deutschland?
Hätte eine grundlegende politische Reform mit diesen jungen Studenten, die von der Machtelite für Chaoten gehalten wurden, gestaltet werden können? Hätten die Verwaltungsinstitutionen weiter funktioniert? Wäre ein Graswurzel-Reformprozess denkbar gewesen, beginnend auf Gemeinde- und Kreisebene, mit demokratischen Wahlen? Und wo stünde China, noch immer das bevölkerungsreichste Land der Erde, dann heute, wenn man all diese Fragen mit Ja beantwortet?
War die Unterdrückung der Proteste unvermeidlich?
MERICS, ein Berliner Thinktank zu China, und die Bundeszentrale für politische Bildung haben exakt zu dem Zeitpunkt, an dem vor 30 Jahren in Peking die Panzer Richtung Tiananmen rollten, eine prominent besetzte Expertenrunde eingeladen, um diese und andere Fragen zu beantworten - oder zumindest, sie zu stellen.
"War die Unterdrückung der Proteste unvermeidlich?", die Frage wird auch dem sachkundigen Publikum der Veranstaltung vorgelegt. Sicher kann das niemand beantworten, darauf weist Perry Link hin, der als emeritierter Princeton-Professor für Ostasienstudien und Herausgeber der Geheimakten-Sammlung "Tiananmen Papers" solchen Fragen seit Jahrzehnten wissenschaftlich und empirisch nachgeht. Aber: "Ich bin ziemlich sicher, dass es unterhalb der obersten politischen Ebene eine Menge Leute gegeben hätte, die in ihren jeweiligen Institutionen ihre Arbeit unter einer offeneren, liberaleren Führung weiter erledigt hätten."
Kann nur die KP Stabilität garantieren?
Das offizielle Narrativ der chinesischen Regierung ist auch heute noch: "Die Niederschlagung der Proteste war notwendig, um Chaos zu vermeiden, gesellschaftliche Stabilität zu bewahren und die Wirtschaftsreform abzusichern." Nicht nur viele Chinesen, auch westliche China-Beobachter und Geschäftsleute teilen inzwischen diese Ansicht.
Chaos als Folge der Proteste wäre zwar durchaus möglich gewesen, glaubt Link, wie chaotische Verhältnisse nach einer gesellschaftlichen Wandlung auch heute noch denkbar wären. Doch wäre das wirklich so bedrohlich? "Ich kann dem Argument der kommunistischen Partei Chinas nicht folgen, dass man auf ganzer Linie und zu jeder Zeit zu ihr halten müsse, um Chaos zu vermeiden. Kann sein, dass es so ist, aber wenn man denen weiter folgt, dann schiebt man den Zeitpunkt für Veränderungen nur hinaus. Irgendwann werden sie kommen."
Der Pakt: Konsum statt moralischer Werte
Die gesellschaftlichen Fakten in China sprechen nicht unbedingt für die Argumentation des amerikanischen Experten. Denn das war der Deal, glaubt MERICS-Expertin Kristin Kupfer, den die KP-Regierung ihrem Volk nach '89 anbot: Wir sorgen für Stabilität, und Ihr, das Volk, gebt dafür alle politischen Ambitionen und jeden Versuch zur Teilhabe auf. "Im Nachhinein betrachtet scheint dieser Deal für die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung funktioniert zu haben", urteilt die Fachfrau für Chinas Medien und Digitalpolitik.
Auch Perry Link hält den Versuch der KP, das ideologische Vakuum nach '89 durch materiellen Konsum zu kompensieren, für erfolgreich. "Geldverdienen und Nationalismus sollten die ursprünglichen moralischen Ideale, die in der chinesischen Gesellschaft wurzelten, ersetzen - und unglücklicherweise hat das funktioniert."
Wie lange hält der Deal noch?
Doch hält dieser Pakt auch heute noch? Sandra Heep, Professorin für Wirtschaft und Gesellschaft Chinas in Bremen, hält ihn gegenwärtig für gefährdet. "Das Problem mit solchen Legitimierungen, die auf Leistung beruhen, ist, dass sie das Regime für wirtschaftliche Schocks extrem anfällig machen." Für die chinesische Regierung seien die Dinge schon seit zehn Jahren komplizierter geworden. Während der Periode, in der China noch wirtschaftlich zur Weltspitze aufschloss, sei es leicht gewesen, hohe Wachstumsraten zu erzielen. Das sei aber vorbei, die chinesische Wirtschaft stehe unter hohem Druck, sich umzustrukturieren. Durch die ökonomischen Spannungen zwischen China und den USA habe sich die Gefahr eines ökonomischen Schocks für China sehr erhöht.
Die zunehmende politische Unterdrückung, seitdem Xi Jinping an die Macht gekommen sei, ließe sich sicherlich teilweise durch die Tatsache erklären, dass sich die Regierung dieses wachsenden wirtschaftlichen Drucks bewusst sei. "Sie wollen sicherstellen, dass sie jeden Ansatz zu einem umfangreichen Protest im Keim ersticken können."
Können sich landesweite Protest wiederholen?
Könnte es in China trotzdem noch einmal zu landesweiten Protesten unter Teilnahme verschiedener Bevölkerungsgruppen kommen? "Die chinesische KP hat so viel in Überwachungstechnik und in Maßnahmen zur Stabilisierung investiert, dass ich glaube, dass es sehr schwierig würde, noch einmal Proteste zu organisieren", sagt der Freiburger China-Historiker Daniel Leese. Nur wenn zentrale Interessen betroffen wären, wie privater Besitz oder ungewisse Nachfolgeregelungen, dann hielte er innerparteiliche Zerwürfnisse für möglich.
Die Zukunftsperspektiven für die chinesischen Machthaber hingen weitgehend von der wirtschaftlichen Entwicklung ab, glaubt auch der Journalist Felix Lee. Noch habe die Regierung genügend Handhabe, um für Wachstum zu sorgen. "Noch gibt es ausreichend Wachstumspotential, denn da sind 400 Millionen, die den Aufstieg in die chinesische Mittelklasse noch nicht geschafft haben", meint der ehemalige China-Korrespondent. "Aber dann von einem Schwellenland zu einer hochtechnisierten Wissensgesellschaft zu werden, ist viel schwieriger als der erste Schritt."
Kommt der Wandel?
Die Möglichkeiten der Kontrolle seien zwar inzwischen enorm, aber auch in China wären neue Formen der Proteste denkbar. Felix Lee ist optimistisch: "Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass sich der Wandel organisieren lässt, wenn die Mehrheit der Gesellschaft ihn wünscht." Hongkong und noch viel mehr Taiwan hielten die Erinnerung wach, dass demokratische Entwicklungen möglich sind.
Wäre China heute ein liberaleres Land, wenn die Proteste nicht niedergeschlagen worden wären? Nur knapp die Hälfte des befragten Publikums beantwortet diese Frage eindeutig mit Ja. Dass die Unterdrückung der Proteste unvermeidlich gewesen sei, hält etwas mehr als ein Sechstel für richtig.