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Tiefe Stimmen gefragt

Michael Brückner20. Oktober 2003

Haben Männer keine Lust mehr zu singen? Oder sind sie einfach unmusikalischer als Frauen? Vielen Gesangsensembles gehen bald die Männer aus.

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In Reichenbach in Thüringen gibt es noch genug sangeslustige MännerBild: dpa

In Deutschland leiden viele Chöre unter "katastrophalem Männermangel", wie Ernst-Leopold Schmid von der Landesmusikakademie Nordrhein-Westfalen sagt. Noch singen rund 1,8 Millionen Menschen organisiert in Deutschland, nach Auskunft des Deutschen Sängerbundes gibt es mehr als 22.000 Chöre.

"Die Nachkriegsgesellschaft hat das Musische dem weiblichen Geschlecht zugeordnet", so Schmid. Männerstimmen fehlen in Deutschland "und auch in allen anderen Ländern! Das Problem hat seine Ursache in den Schulen!" sagt Simon Halsey, Gründer des berühmten City of Birmingham Symphonie Chorus und Leiter des Rundfunkchors Berlin, eines der renommiertesten Profi-Chöre weltweit.

Versagen der Schulen

Traurige Tatsache ist, dass kaum ein Unterrichtsfach an deutschen Schulen so oft ausfällt und so stiefmütterlich behandelt wird wie das Fach Musik. Die Landesmusikakademie Nordrhein-Westfalen schätzt, dass 80 Prozent der Musikstunden an Grundschulen ausfallen.

In Großbritannien ist auffällig, dass die meisten männlichen Nachwuchssänger von Privatschulen stammen, wo Musikunterricht regelmäßig stattfindet. "Wenn Kinder singen lernen, dann singen sie immer. Vielleicht nicht während der Ausbildung, aber später, so mit 35 Jahren, wenn Job und Familie geregelt sind, dann fangen viele wieder an", so Simon Halsey im Gespräch mit DW-WORLD.

Singendes Baltikum

In den baltischen Staaten zum Beispiel ist Chorsingen bis heute geradezu ein Volkssport, jeder zehnte Litauer ist Mitglied in einem Chor. Denn in den baltischen Staaten war die eigene Musikkultur, das Singen in der zu Sowjetzeiten verbotenen Muttersprache ein elementarer Beitrag zur Rettung der eigenen Kultur. Bis heute wird daher auch in den baltischen Ländern ungewöhnlich viel klassische Chormusik neu komponiert, Chormusik ist geradezu ein Exportschlager des Baltikums.

Weg vom Verein

Die nachlassende Lust am Singen in West-Europa führt der Musikwissenschaftler Friedhelm Brusniak von der Universität Würzburg auch auf das vorherrschende Männerbild zurück, das heute vor allem vom Sport dominiert wird. "Es liegt nicht am Singen-können", sagt er im Gespräch mit DW-WORLD. Außerdem könne man zum Beispiel an den Stadiongesängen erkennen, dass das Bedürfnis zu singen nach wie vor vorhanden sei. Volksbrauch und Volksgesänge seien da wohl in einem bemerkenswerten Wandel begriffen. Sozusagen weg vom Gesangsverein und hin zur spontanen Massenkundgebung.

Der "singende deutsche Mann" war, so Brusniak, im 19. Jahrhundert vor allem auch Politiker. Und zwar nicht unbedingt ein staatstragender, sondern oft auf der Seite liberaler Reformer oder organisiert in der von den Nazionalsozialisten zerstörten Arbeiter-Singbewegung. Dieser politische Sinn erklärt auch die gesellschaftliche Bedeutung, die Männergesangsvereine zeitweise besaßen. Mit dem Verlust dieser Bedeutung schwindet aber auch deren Atraktivität. "Vor allem der Sport hat es geschafft, gesellschaftliche Wertungen zu verschieben", sagt Brusniak. Wer heute im Ort mitreden will, geht als Mann meist in den Fußballverein.

Profis springen in die Bresche

Doch wenn eine Elterngeneration nicht mehr selbst aktiv Musik macht, also zum Beispiel singt, dann werden es auch deren Kinder nicht tun. Die staatlichen Schulen versagen auf diesem Gebiet immer öfter. "Wir Profi-Musiker müssen Musikunterricht machen!" sagt Simon Halsey daher. "In England und den USA haben wir dieses Problem bereits in den 1970er Jahren erkannt. Hier in Deutschland kommt es mit einer Generation Verspätung an. Wir Profis müssen hart an Erziehungs-Projekten arbeiten."

Zusammen mit seinem Kollegen Sir Simon Rattle hat Simon Halsey über die Jahre in Birmingham einen riesigen Laienchor mit verschiedenen Abteilungen aufgebaut. In einer Sparte wird noch nicht einmal ein Vorsingen verlangt. Aber alle dürfen mit den weltberühmten Musikern des City of Birmingham Orchestras zusammen auftreten. Die Musiker gehen in die Schulen, es gibt Mitsingkonzerte für jedermann. Ende Oktober (2003) wird Simon Halsey in Birmingham Händels Messias mit über 1000 "Freiwilligen" aufführen.

Simon Halsey und Simon Rattle bringen das jetzt auch nach Deutschland: Im Dezember werden 200 Berliner Schulkinder gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern "La Damnation de Faust" von Hector Berlioz aufführen und im Mai 2004 kann jeder, der Zeit und Lust hat, mit dem Rundfunkchor Berlin Morzarts "Requiem" singen. Und das ohne peinliches Vorsingen. "Es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass alle gut singen werden", sagt Simon Halsey dazu lachend.