"Liu Xias Freilassung ist nur ein Schachzug"
10. Juli 2018Die Menschenrechtsaktivistin Tienchi Martin-Liao war mit Liu Xiaobo befreundet und hat gemeinsam mit dem Friedenspreisträger Liao Yiwu, der Nobelpreisträgerin Herta Müller und vielen anderen Intellektuellen von Deutschland aus lange vergeblich für seine Ausreise gekämpft. Seit 2009 ist sie Vorsitzende des inoffiziellen Chinese PEN, ein Amt, das sie stellvertretend für den inhaftierten Friedensnobelpreisträger übernommen hatte. Die Herausgeberin, Autorin und Übersetzerin lebt in Köln.
DW: Frau Martin-Liao, als Vorsitzende des inoffiziellen Chinese PEN, als Herausgeberin von Liu Xiaobos Werken und als Freundin stehen Sie seit Jahren im Kontakt mit Liu Xia, der Ehefrau bzw. seit einem Jahr der Witwe von Liu Xiaobo. Wussten Sie von ihrer bevorstehenden Ausreise, für die Sie ja seit einem Jahr gekämpft hatten?
Tienchi Martin-Liao: Was für eine Freude! Aber ich wusste nichts vorher, das kam aus heiterem Himmel. Ich habe noch vor drei Tagen mit Liu Xia telefoniert. Sie war in Peking in ihrer Wohnung. Es ist möglich, dass sie das selber auch noch nicht wusste, aber in jedem Fall konnte sie nichts darüber sagen. Als ich heute Morgen um sechs Uhr den ersten Anruf von einem Journalisten erhielt, konnte ich es selber noch nicht glauben. Eine halbe Stunde später hat mich Liao Yiwu angerufen und das bestätigt.
Wie intensiv war die deutsche Botschaft involviert?
Der Botschafter, Herr Michael Clauss, hat Liu Xia begleitet. Sie sind gemeinsam heute Vormittag, kurz vor 11 Uhr Pekinger Ortszeit, abgeflogen. In Berlin wird sie von Liao Yiwu und sehr vielen anderen empfangen.
Warum wurde Liu Xia gerade jetzt freigelassen?
Indirekt können wir uns bei US-Präsident Trump bedanken. China und die USA befinden sich jetzt in einem Handelskrieg, und nicht nur das, die USA haben ihre gesamte geostrategische Ausrichtung geändert. Sie nähern sich Taiwan wieder stärker an und haben sogar einen Flugzeugträger in die Taiwan-Straße geschickt.
Als Reaktion versucht China, neue Verbündete zu finden. Ich meine nicht, dass China nicht schon vorher mit Europa verbündet gewesen wäre. Aber jetzt merkt die chinesische Regierung, dass es noch nötiger ist als bisher, gute Beziehungen zu Deutschland und zur EU zu pflegen. Insofern ist Liu Xias Freilassung nur ein Schachzug, der mit Menschenrechten oder Menschlichkeit überhaupt nichts zu tun hat. Das möchte ich betonen.
Die chinesische Außenamtssprecherin Hua Chunying hat betont, dass Liu Xias Ausreise nichts mit dem aktuellen Besuch "chinesischer Führer" in Deutschland zu tun habe.
Nachrichten aus China sollte man immer umgekehrt lesen. Es ist gerade das Gegenteil.
War der Besuch von Kanzlerin Merkel im Mai maßgeblich für die Ausreisegenehmigung?
Er hat in jedem Fall dazu beigetragen. Liao Yiwu und ich haben Kontakt zum Auswärtigen Amt, und wir wissen, dass sich die deutsche Regierung sehr um Liu Xias Angelegenheit gekümmert hat. Das war bei den Gesprächen eigentlich immer auf der Tagesordnung. Merkel hat auf jeden Fall bei ihrer Mai-Reise mit Staatspräsident Xi Jinping darüber gesprochen.
Wie geht es Liu Xia?
Physisch ist sie schwach. Sie hatte vor einigen Monaten eine Operation. Psychisch… ich habe in den letzten Monaten so oft mit ihr gesprochen, weil ich Angst um sie hatte. Sie war sehr labil, aber inzwischen ist sie einigermaßen stabil. Ich denke, wenn sie hier ankommt, die deutsche Seite sich um sie kümmert und sie medizinisch untersucht wird, dann wird sie sich langsam erholen. Aber worüber ich mir wirklich Sorgen mache, ist, dass sie jetzt mit einer neuen Kultur, mit einer neuen Sprache und einer neuen Umgebung konfrontiert ist. Ich fürchte, sie wird sehr in eine Einsamkeit fallen, egal, wie viele Leute sie gerne mögen und ihr helfen. Aber sie braucht ihre Familie und ihre nächsten Freunde.
Ihr Bruder Liu Hui durfte nicht ausreisen. Wird das Liu Xia auf lange Sicht unter Druck setzen?
Auf jeden Fall. Ich kann es nicht beweisen, aber von anderen Fällen wie zum Beispiel Ai Weiwei weiß ich, dass sie, wenn sie offiziell ausreisen dürfen, immer eine Art Deal mit der chinesischen Regierung machen müssen. Liu Xia weiß, dass sie bestimmte Sachen nicht sagen und bestimmte Dinge nicht tun soll, damit ihr Bruder nicht noch mehr in Gefahr gerät. Mit Liu Hui hat die chinesische Regierung eine Geisel in der Hand. Das ist ein leichtes Spiel für sie.
Wird Liu Xia in Berlin bleiben?
Ja.
Ist sie die Einsamkeit nicht durch ihren achtjährigen Hausarrest gewöhnt? War der nicht zumindest zeitweise für sie auch so etwas wie Isolationshaft?
Das stimmt nicht ganz. Es gab immer viele Menschen, die versuchten, sie zu trösten und an sie heranzutreten. Zuletzt habe ich sie alle paar Tage angerufen und ihr gesagt, dass sie nicht allein zu Hause sein darf. In der letzten Zeit war immer jemand bei ihr, auch vor drei Tagen, als ich mit ihr telefoniert habe. Sie hatte einen gewissen Grad an Freiheit. Sie konnte ab und zu mit Freunden Essen gehen, oder Badminton spielen. Das Leben in Deutschland wird eine neue Herausforderung für sie sein.
Liu Xia wurde drei Tage vor Liu Xiaobos erstem Todestag freigelassen. Heißt das, dass man sie vorher los sein wollte, um möglichst alles zu vermeiden, was an sein Schicksal und seine Gedanken erinnern könnte?
Ich denke, dass die jetzige zeitliche Koinzidenz eher zufällig ist. Das wollte die chinesische Regierung eigentlich vermeiden, dass man an Liu Xiaobo denkt, einen Memorial-Service macht, oder Ähnliches. Aber Ministerpräsident Li Keqiang war nun mal jetzt in Deutschland. China ist sehr in die Enge getrieben worden durch die Amerikaner. Und die chinesische Seite weiß ganz genau, dass Liu Xia für Merkel, für die deutsche Seite ein wichtiger Faktor ist.
Aber ich möchte betonen, egal, wie glücklich wir über ihre Ausreise sind: Diese Geste der chinesischen Regierung ist ungeheuer zynisch! Sie haben Liu Xia niemals als einen Menschen betrachtet, nicht als traurige Frau, die ihren Mann verloren hat, sondern für sie ist sie wie ein Paket. Ein Geschenk für die deutsche Regierung. Darin spiegelt sich nur Verachtung für die Menschenrechte. China wird sich in Zukunft noch weniger um Menschenrechtsfragen scheren. Menschenrechte gibt es nicht, es gibt nur Politik. Sie tun nur, was politischen Zwecken dient.
Es gibt noch zahllose politische Gefangene in China. Um wen muss man sich jetzt besonders kümmern?
Ilham Tohti, der uigurische Professor, hat lebenslänglich bekommen wie auch der Demokratie-Aktivist Wang Bingzhang. Der Anwalt Wang Quanzhang ist seit drei Jahren verschwunden. Da gibt es noch eine lange Reihe von Gefangenen: den Menschenrechtsanwalt Gao Zhisheng, den Reporter und Aktivist Qin Yongmin, und wie sie alle heißen. Allein von unserem PEN sitzen sieben Leute im Gefängnis.
Liu Xiaobos Todestag jährt sich am Freitag, 13. Juli. Was plant der PEN?
Wir planen eine große Veranstaltung in Berlin, einen Gedenkgottesdienst für Liu Xiaobo in der Gethsemane-Kirche. Mein Freund, der Pfarrer Roland Kühne, Liao Yiwu und ich haben das arrangiert, der PEN hat nicht direkt mitgewirkt, aber er unterstützt unsere Aktivität natürlich.
Das Gespräch führte Sabine Peschel