US-Schriftsteller Tom Wolfe gestorben
15. Mai 2018"Irgendjemand muss eben den Pionier spielen und für andere einen Wegweiser hinterlassen", schrieb Tom Wolfe einst in seinem Buch "Unter Strom. Die legendäre Reise von Ken Kesey und den Pranksters" ("The Electric Kool-Aid Acid Test"). Obwohl er sich hier eigentlich auf die Pop-Ikone Ken Kesey und seine Mitstreiter in einem überfüllten Bus bezog, hat Wolfe damit gleichwohl seine eigene zukünftige Rolle in der amerikanischen Autorenszene vorweggenommen.
Wolfe hat sich an diese Maxime gehalten: Er erschrieb sich den Status eines Pioniers der Literatur und als solcher gelang es ihm, auch die in "Unter Strom" erwähnten Wegweiser zu hinterlassen. Das 1968 erschienene Buch war keineswegs die erste Veröffentlichung von Wolfe, der bereits seit 1956 als Journalist gearbeitet hatte, zunächst als Lokalreporter in einer Kleinstadt in Massachusetts und später als erfolgsgekrönter Lateinamerika-Korrespondent der "Washington Post". Dennoch stellte das Buch, das die "New York Times" als eines der bedeutendsten Werke aller Zeiten bezeichnete, einen Durchbruch dar.
"Unter Strom"
Hier erzählt Wolfe die Geschichte einer Hippiekommune, die im LSD-Rausch quer durch Amerika reist, um Timothy Leary zu treffen, was aber niemals zustande kommt. Wolfe wurde hochgelobt für seine detailgenaue Darstellung einer kulturellen Gegenbewegung in einer Zeit, die von großen politischen Zerwürfnissen geprägt war. Gleichzeitig revolutionierte Wolfe auch den Journalismus, indem er sich stilistischer Mittel bediente, die bislang auf den Prosabereich beschränkt gewesen waren. Denn er erzählte die Geschichte der Hippies auf eine Weise, die weniger neutral und objektiv war, als man dies bislang von einer traditionellen Reportage kannte.
Anstatt sich auf Fakten und Aussagen von Experten zu verlassen, bediente sich Wolfe vieler verschiedener Perspektiven, sowie ausführlicher, mit ungewöhnlicher Punktuation versehener Dialoge, um das unsinnige Gefasel von Menschen auf Droge widerzugeben. Dieser Stil wurde zum Inbegriff eines neuen Reportagestils, der von Autoren wie Gay Talese, Norman Mailer und Hunter S. Thompson angewendet wurde - ein Stil, den Wolfe schließlich selbst als "Neuen Journalismus" bezeichnete, als er unter genau diesem Titel wenige Jahre später eine Anthologie verfasste.
Scharfzüngiger Kulturkritiker
Schon vor der Veröffentlichung von "Unter Strom" hatten Wolfes literarische Experimente in der New Yorker Verlagswelt die Runde gemacht - und zwar mit seinem anschaulichen Bestseller-Debüt "Das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby" ("The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby"), eine Essaysammlung, die aus einem gleich betitelten Artikel über die Liebesaffäre vieler Bewohner von Los Angeles mit ihren Autos entstand, den Wolfe ursprünglich für das Magazin "Esquire" geschrieben hatte.
Durch seine wirklichkeitsgetreue Darstellung einer alltäglichen Szene hatte Wolfe dem realitätsfernen literarischen Establishment von New York das Leben durchschnittlicher Amerikaner nahe gebracht. Zu einer Zeit, in der Flugreisen noch unerschwinglich waren, und die meisten Amerikaner im Urlaub zum nächstgelegenen See reisten, machte Wolfe seine Leser mit Welten vertraut, die sie ansonsten nie kennengelernt hätten. Gleichzeitig ermöglichte er es den Lesern, sich mit der Geschichte zu identifizieren, indem er sich auf Allerweltsmenschen fokussierte.
Kampf gegen Elitarismus
Seiner exzellenten Ausbildung in Yale und seinem Platz in der höheren New Yorker Gesellschaft zum Trotz richtete Wolfe von Anfang an seinen Blick auf die Probleme einer Gesellschaft, die von sozialen Gegensätzen und Elitarismus geprägt war. Die neu entstandene Zeitschrift "New York" veröffentlichte 1963 Wolfes Abrechnung mit dem Magazin "The New Yorker" und ihrem Herausgeber William Shawn - eine Publikation, die damals wie heute als Gipfel des literarischen Establishments galt. Hier hatte Wolfe die "falschen Intellektuellen" im Visier, die seiner Meinung nach gelangweilten Hausfrauen in den Vorstädten vorgaukelten, sie stünden auf dem gleichen Niveau wie die französische intellektuelle Elite. Hier entzündete sich ein bissiger öffentlicher Schlagabtausch mit zeitgenössischen Autoren, darunter John Updike und Norman Mailer, der Jahrzehnte andauerte.
Kritik an der Regierung
Zu einem weiteren Meilenstein wurde 1970 Wolfes Beschreibung einer Party, die Leonard Bernstein in seiner Maisonette auf der vornehmen Park Avenue für die Black Panthers gegeben hatte. In dem Buch "Radical Chic und Mau-Mau bei der Wohlfahrtsbehörde" ("Radical Chic & Mau-Mauing the Flak Catchers"), das die Rassenprobleme jener Zeit thematisiert, übte Wolfe hämische Kritik am damaligen Regierungsprogramm zur Bekämpfung der Armut aus dem Blickwinkel der Betroffenen. Bei Wolfe konnte man sich nie in Sicherheit wähnen, keine verborgene Ecke des amerikanischen Lebens blieb von seinem scharfen Auge verschont.
Frustriert vom Ausbleiben der Revolution in den 1960er Jahren nannte Wolfe die siebziger Jahre spöttisch das "Ich-Jahrzehnt", vor allem in einer Essaysammlung, in der er argumentierte, dass eine Revolution des Ichs die einzige noch verbleibende Möglichkeit sei, die er als "alchemistischer Traum" bezeichnete. In den Essays tritt Wolfes größte Stärke zutage: Indem er weder die Probleme des zeitgenössischen amerikanischen Lebens beschönigte, noch dessen Protagonisten in einem positiven Licht darstellte, schuf er Ausdrücke, die zu einem festen Teil unseres Vokabulars wurden.
"Fegefeuer der Eitelkeiten"
Nachdem die Verkaufszahlen von Zeitschriften in den Keller gegangen und nun eher das Fernsehen die New Yorker Medienszene beeinflusste, wandte sich Wolfe in den 1980ern der Belletristik zu. Nachdem er mit dem "Rolling Stone"-Magazin einen Vertrag über einen Fortsetzungsroman ausgehandelt hatte, schrieb er innerhalb der folgenden zwei Jahre die Rohfassung jenes Werks, das später als "Fegefeuer der Eitelkeiten" ("The Bonfire of the Vanities") Berühmtheit erlangen sollte - sein erster Roman, der wahrscheinlich am meisten zu seiner Bekanntheit beitrug.
Der später von Brian De Palma mit Tom Hanks und Melanie Griffith verfilmte Roman legte Zeugnis von der Absurdität der schnelllebigen achtziger Jahre ab. Hier arbeitete Wolfe die starken Gegensätze einer Stadt heraus, in der die Wall Street einen massiven Wiederaufschwung erlebte, wie auch Kriminalität und Obdachlosigkeit, und fesselte die Leserschaft durch seine gnadenlose Darstellung von Geldgier und Machtstreben. Der Film erlangte Kultstatus, und der Name seines Protagonisten Sherman McCoy, wurde zum Synonym für Skrupellosigkeit.
Obwohl Wolfe auch nach dem Erfolgstrip seines Bestsellers nie mit dem Schreiben aufhörte, wurde keins seiner nachfolgenden Bücher jemals so erfolgreich oder beachtet wie dieses - eine Tatsache, die ihn nicht davon abhielt, weiterhin einen kritischen Blick auf die moderne Gesellschaft zu werfen, oder seine Vorgehensweise zu ändern, mit der er sich selbst in genau jene Jugendkultur einbrachte, die er sodann von innen heraus durchleuchtete.
Ein Gentleman im weißen Anzug
Tom Wolfe ist unter der Oberfläche stets ein Gentleman südstaatlicher Prägung geblieben. Als er 1962 aufgrund einer neuen Arbeitsstelle in New York in förmlicher Kleidung erscheinen musste, übernahm er die Mode seines Heimatsstaates Virginia: Er kaufte sich einen weißen Anzug, den er tagtäglich trug, obwohl der Stoff für schwüle Sommertage viel zu warm war. Der Anzug wurde zu seinem Markenzeichen - bis zuletzt erschien der Schriftsteller in der Öffentlichkeit ausschließlich in einem weißen Anzug, manchmal mit Hut oder einem vergoldeten Gehstock als Accessoires.
Obwohl sein Kollege Norman Mailer anmerkte, "ein Mann, der permanent einen weißen Anzug trägt, vor allem in New York, strahlt irgendwie etwas dümmliches aus", wurde der Anzug zu einem integralen Teil von Wolfes Legende.
Am Montag ist Tom Wolfe im Alter von 88 Jahren in einem Krankenhaus in Manhattan gestorben.