Die Schweiz auf der Suche nach Urlaubern
15. Juli 2021Die rotierende Drehseilbahn "Rotair" überwindet den letzte Hochgebirgskamm. Auf der Bergstation des Gletscher Titlis auf 3.000 Höhenmetern liegt den Besuchern das mächtige Alpenpanorama zu Füßen. Schnee knirscht unter den Schuhen. Ein Wintermärchen mitten im Sommer. Schnell noch ein Selfie in schwindelerregender Höhe auf dem Cliff Walk - Europas höchstgelegene Hängebrücke - und kurz reinschauen in die künstliche Gletscherwelt à la Ice Age.
So sah das Schweiz-Programm vor der Pandemie für viele Reisende aus Übersee aus - meist Asiaten, viele von ihnen Inder. Zu ihren Europareise-Höhepunkten gehörte stets der Engelberger "Mount Titlis" in der Zentralschweiz. Er ist als Kulisse in Bollywood-Filmen in Asien bekannter als in Europa. Im Sekundentakt brachten die modernen Gondeln Besucher im Wander-Outfit oder im Sari zum Gipfel, bis zu 5.000 Touristen täglich.
Die schlimmste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg
Im Sommer 2021 ist es still auf dem Titlis. Die Gäste aus Übersee fehlen. Und nicht nur dort. Landesweit beklagen Hotels pandemiebedingt 80 Prozent weniger Gäste. Ein historischer Einbruch: "Seit dem 2. Weltkrieg sind nicht mehr so wenig Hotelübernachtungen zustande gekommen", resümiert Jörg Krebs von Schweiz Tourismus.
Und so bleiben im Hochsommer 2021 die meisten der mit Nationalflaggen dekorierten Titlis-Gondeln leer. "Im Mai und im Juni hatten wir hier sonst immer volle Gondeln mit asiatischen Gästen", sagt Fabian Appenzeller von den Titlis Bergbahnen. "Damit konnten wir die sonst ruhigere Sommersaison immer gut ausfüllen. Unsere Bahnen waren dadurch ganzjährig ausgelastet. Wir werden wohl erst 2023 wieder eine Wertschöpfung wie vor der Pandemie sehen.", stellt Fabian Appezeller ernüchtert fest.
Rund 50 Prozent weniger Übernachtungen in den Hotels verzeichnete Engelberg 2020 - und steht damit noch vergleichsweise gut da. Das Fehlen der Gäste aus Übersee konnte wenigstens zum Teil aufgefangen werden. "Wir haben deutliche Zunahmen von Gästen aus der Schweiz, Deutschland, Frankreich und den Beneluxstaaten gesehen.", erklärt Andres Lietha, Leiter von Engelberg-Tourismus.
Europäische Urlauber retten die Saison
Das Angebot für Schweizer und Europäer, Familien mit Kindern, Individualtouristen, die das Naturerlebnis suchen, will Engelberg nun ausbauen. Mit kostenlosen Ferienprogrammen im Sommer und Herbst können auf Alphütten, in Kletterparks und in Hotels Kinder betreut klettern, radeln, Schätze suchen und Bauernhöfe erkunden. Währenddessen genießen die Eltern für ein paar Stunden ihr eigenes Programm, gehen in Ruhe wandern oder entspannen sich in einem Wellness-Tempel.
Ganz auf Familien haben sich die Betreiber der Brunni-Bahnen auf der anderen Seite des Dorfes schon seit einigen Jahren eingestellt. Das zahlt sich jetzt aus. Auf dem Brunni wurden eine Sommerrodelbahn und Alpenspielplätze eingerichtet. Klettern, wandern, Gleitschirmfliegen, Touren mit dem E-Mountainbike - all das ist möglich. Auch das Thema Nachhaltigkeit ist auf dieser Seite des Tals kein Lippenbekenntnis: Seilbahnen und Lifte sind die einzigen CO2-neutralenen Bergbahnen der Schweiz und speisen sich aus einer eigenen Solarstrom-Anlage.
Gesucht: Ein tragfähiges Tourismuskonzept
"Der Blick zurück schärft den Blick in die Zukunft", ist Nicole Eller Risi, Leiterin des Talmuseums, überzeugt. Das kleine Museum informiert über den Aufstieg des unscheinbaren Bergdorfes mit seinem Kloster im Zentrum zum mondänen Urlaubsdomizil in den Bergen. Knapp ein halbes Dutzend Grand Hotels wurden in Engelberg Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Es entwickelte sich zum Treffpunkt der europäischen High-Society - bis der Erste Weltkrieg kam und der Niedergang der Luxushotels einsetzte. Damals entdeckten sie den Wintersport als Umsatzturbo und erschlossen mit modernen Seilbahnen ihren höchsten Berg, den Titlis.
Engelberg gehört heute zu den Touristenhochburgen der Schweiz - im Winter wie im Sommer. Umgeben von Dreitausendern in einem Hochtal gelegen, ist der 4000-Seelen-Ort schnell zu erreichen, nur 40 Kilometer von Luzern und 80 Kilometer von Zürich entfernt. Der Ort hat einen eigenen Bahnhof und eine gut ausgebaute, historisch gewachsene Infrastruktur. Dazu kommen 2.000 Hotelbetten, einige hundert Ferienwohnungen und Ferienhäuser sowie ein ganzjährig geöffneter Campingplatz.
Anfang der 1990er Jahre entdeckten Reiseveranstalter aus Asien Engelberg als ideale Location für Tagesausflüge. Busfahrten von Luzern auf den Titlis wurden zu einem festen Programmpunkt der Europareisenden aus Übersee. Und zu einer neuen, wichtigen Einnahmequelle für die Engelberger.
Wie groß die Abhängigkeit von dieser Einnahmequelle ist, zeigte Corona nun mehr als deutlich. Ohne die Besucher aus Asien bleiben die Kassen leer, verwaiste Gipfel und Hotels sichern keine Arbeitsplätze. In Engelberg besinnt man sich auf seine Qualitäten: die Tradition seiner Kur- und Luxushotels und auf die Natur.
Im Kurs: Natur erleben
Nun, da die ausländischen Touristenströme versiegt sind, werden Natur- und Familienurlauber verstärkt umworben. Eine kleine Gondel mit Platz für acht Personen startet am Ende des Dorfes gemächlich auf die Fürenalp - eine surrt nach oben, die Zweite nach unten. Das war's. Vorschläge, hier größere Gondeln zu installieren, lehnten die Betreiber stehts ab. Massentourismus sei hier nicht zumutbar, der ländliche Charakter würde verloren gehen.
Oben angekommen sind kurze Wanderungen bis zur nächsten Alp-Hütte mit Käseverkostung möglich oder man bleibt und tourt über mehrere Tage. Ein Alpkäse-Trail führt über fast 50 Kilometer an sieben Käsereien vorbei durch die malerische Landschaft. "Little Patagonia" – Klein Patagonien nennt André Wolfensberger von Engelberg Tourismus das Surenental, das sich bis in den benachbarten Kanton schlängelt. Um 120 Kühe kümmern sich vier Bauern mit ihren Familien rund um die Alpkäserei Surenen. Sie "sömmern" hier oben, sind also nur für 100 Tage hier und können auch Gäste beherbergen. Wer sich für den anstrengenden Alltag der Bergbauern interessiert, kann in Berggasthäusern übernachten und sich auf einer Buiräbähnli-Safari ein Bild von der Arbeit auf der Alp machen, wo das Heu teilweise noch wie vor hundert Jahren per Hand gewendet und gebündelt wird.
Mehr Individualtouristen, weniger Gruppen
"Es wird unabhängig von der Pandemie bei den Fernmärkten eine Verlagerung von Gruppenreisen zu Individualreisenden geben", ist Tourismus-Chef Andres Lietha überzeugt. Man will wohlhabende Großstädter aus der ganzen Welt in die Bergwelt locken. In Engelberg besinnt man sich auf seinen legendären Ruf als Kur- und Luxusresort. Es wird viel modernisiert und neu gebaut.
Ein Vorzeigeprojekt ist das "Kempinski Palace Engelberg Titlis Swiss Alps". Ein zentral gelegenes, von einem chinesischen Investor aufwändig in fünfjähriger Bauzeit renoviertes Grandhotel, das einst "Europäischer Hof" hieß. Sogar der Abt des 900-jährigen Klosters spendete seinen Segen. Mit kostspieligen Zimmern und Suiten hat man hier internationales, zahlungskräftiges Klientel im Visier. Ein Startschuss in Pandemiezeiten ist zwar gewagt, kommt Hoteldirektor Andreas Magnus aber entgegen: Er will das Fünf-Sterne-Haus mit 129 Betten langsam hochfahren, plant noch keine volle Auslastung. Bar, Restaurant und Wintergarten sind auch für externe Gäste zugänglich.
Wohin geht die Reise?
Die einen suchen den Luxus und die Extravaganz, die Touristen aus Übersee sind Highlights im Sekundentakt gewohnt, die Familienurlauber aus Europa wollen Ruhe und Erholung in der Abgeschiedenheit der Berge. Engelberg jongliert damit, die unterschiedlichen Bedürfnisse seiner Gäste unter einen Hut zu bekommen.
Die nun pandemiebedinge Zwangspause ist die Chance, um die Strategie für die Zukunft zu überdenken. Die Frage, ob künftig weiterhin asiatische Reisegruppen nur für einen Tag auf den Titlis kommen werden, um dann in ihre Hotels in Luzern oder Zürich zurückzufahren, steht im Raum. Nicht Umsatzmaximierung sollte oberstes Ziel sein, sondern Resilienz, um mit nachhaltigen Angeboten flexibel auf eventuelle neue Krisen reagieren zu können. Ob die Engelberger dazu die Kraft finden, wird sich zeigen.