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20. Der lange Weg zur Barrierefreiheit

12. Mai 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Bald soll es in Deutschland ein Gesetz geben, das die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen regelt.

https://p.dw.com/p/3tEYO

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Matthias Klaus: Seit einigen Wochen tourt der Mehr-Barrierefreiheit-Wagen durch Deutschland in diesem VW-Bus, gefahren vom Netzwerk-Artikel-3 treffen Aktivistinnen und Aktivisten auf Menschen aus der Politik und interessierte Bürgerinnen und Bürger und natürlich auf die Presse. Und sie machen Werbung für politische Beteiligung. Denn Ende Juni soll in Deutschland das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz vom Bundestag verabschiedet werden.

Eigentlich doch ein schöner Erfolg: Ein Gesetz, das Barrierefreiheit im Namen trägt. Doch da geht's schon los. Ursprünglich sollte es "Barrierefreiheitsgesetz" heißen. Als der Entwurf dann fertig war, hieß es plötzlich nur noch "Barrierefreiheitsstärkungsgesetz." Man wollte wohl nicht zu hohe Erwartungen wecken.

Heute in "Echt behindert!" wollen wir mal klären: Was denn drinsteht in diesem Gesetz? Wieso es dieses Gesetz jetzt auf einmal gibt? Wen und was es betrifft? Und warum Menschen mit Behinderung gute Gründe haben, nicht in Jubel auszubrechen, wo doch die Stärkung der Barrierefreiheit eigentlich eine gute Sache ist.

Dazu mit mir im Podcast ist heute Christiane Möller. Sie ist Juristin und hat sich ausgiebig mit dem Gesetzentwurf für das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz beschäftigt. Schönen guten Tag, Frau Möller.

Christiane Möller: Schönen guten Tag!

Matthias Klaus: In welcher Funktion haben Sie sich denn mit diesem Gesetz beschäftigt? Warum interessiert Sie das?

Christiane Möller: Ja, ich bin Rechtsreferentin beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband. Und deshalb haben wir uns natürlich hier im Verband auch mit diesem Gesetzentwurf auseinandergesetzt, weil er eben auch blinde und sehbehinderte Menschen ganz besonders betrifft.

Matthias Klaus: Aber er betrifft ja auch andere, vermute ich mal.

Christiane Möller: Genau dieser Gesetzentwurf betrifft alle Menschen mit Behinderung und auch mit funktionellen Einschränkungen. Das sind zum Beispiel ältere Menschen oder Menschen, die eine Verletzung haben oder vielleicht auch Schwangere also die auf Barrierefreiheit besonders angewiesen sein können.

Und der Gesetzentwurf betrifft natürlich auch die Wirtschaft, die ja Barrierefreiheit dann für bestimmte Produkte und Dienstleistungen umsetzen muss. Wir haben das mal mit dem Slogan umschrieben: "Barrierefreiheit geht uns alle an." Und das ist eigentlich auch Kern des Gesetzes oder sollte es zumindest sein. 

Matthias Klaus: Wie steht es denn bislang in Deutschland um die gesetzlichen Regelungen für Barrierefreiheit? Ist das überhaupt geregelt? 

Christiane Möller: Wir haben in Deutschland gesetzliche Regelungen zur Barrierefreiheit seit 2002 sowohl im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes, als auch in den Behindertengleichstellungsgesetzen der Länder und auch in anderen Gesetzen.

Aber die Regeln vor allen Dingen Barrierefreiheit im Zusammenhang mit Trägern öffentlicher Gewalt, also die Barrierefreiheit von z.B. Bundesgebäuden oder die Barrierefreiheit von Webseiten und Apps von Bund, Ländern und Kommunen. Also immer da, wenn ich sozusagen mit Trägern öffentlicher Gewalt, also mit Behörden z.B. mit Krankenkassen in Kontakt komme, da gibt es Regelungen.

Was wir aber in Deutschland bislang nicht haben, sind Regelungen, die dazu verpflichten, dass auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen Barrierefreiheit beachten müssen.

Matthias Klaus: Doch wie es aussieht, scheint Deutschland mit dieser Großzügigkeit der Privatwirtschaft gegenüber jetzt nicht mehr durchzukommen. Es gibt ja in der EU-Vorgaben. Welche Vorgaben gab es denn jetzt aus der EU, damit in Deutschland so ein Gesetz gemacht werden muss? Das machen die doch erst einmal nicht freiwillig?

Christiane Möller: Nein. Und wir müssen auch ganz klar feststellen, dass Barrierefreiheit in Deutschland vor allem deshalb in den letzten Jahren vorangekommen ist, weil die EU eben verschiedene Vorgaben gemacht hat. Also ob es die Webseiten-Richtlinie war, die dazu geführt hat, dass wir jetzt einen wirklichen Anspruch darauf haben, dass Webseiten und Apps öffentlicher Stellen barrierefrei sein müssen bis in den kommunalen Bereich rein, ob es im Vergabewesen Regelungen waren, die dazu verpflichten, dass bei Ausschreibungen Barrierefreiheit berücksichtigt werden muss. Und jetzt eben auch aus Europa: der European Accessibility Act, der eben dazu verpflichtet, dass bestimmte Produkte und Dienstleistungen barrierefrei sein müssen.

Wenn wir den Druck aus Europa nicht hätten, diese Richtlinie hier in Deutschland umzusetzen, muss man ganz klar sagen, wären wir heute nicht da, wo wir jetzt schon hingekommen sind.

Matthias Klaus: Wie wirkt sich das denn jetzt aus? Was soll denn im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz geregelt werden?

Christiane Möller: Der European Accessibility Act, das ist genauer gesagt eine europäische Richtlinie 2019-882 und Richtlinien müssen immer zuerst einmal in deutsches Recht umgesetzt werden. Die gelten (anders als Verordnungen, die aus Europa kommen) nicht unmittelbar. Es braucht noch einen Akt in Deutschland, der dazu führt, dass man das in ein Gesetz gießt oder in einen Staatsvertrag oder in eine Verordnung, also ein Instrument, mit dem das Ganze auf nationaler Ebene umgesetzt wird. 

Matthias Klaus: Aber einfach nichts machen kann man nicht.

Christiane Möller: Nein, einfach nichts machen kann man nicht, weil sonst riskiert man nämlich ein Vertragsverletzungsverfahren. Und ein Vertragsverletzungsverfahren wäre eine Sache, die Deutschland natürlich nicht riskieren sollte. 

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, um wieder zum Punkt zu kommen, ist sozusagen eines der Gesetze, mit dem dieser European Accessibility Act (also diese Richtlinie) in deutsches Recht umgesetzt wird. Ich sage ganz bewusst eines der Instrumente, weil nämlich nicht die komplette Richtlinie in diesem Gesetz umgesetzt werden soll. Bestimmte Bereiche werden ausgeklammert und anders geregelt. Das betrifft etwa die Notrufe: Die werden in einem anderen Gesetz geregelt. Und das betrifft den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten. Die werden im Medienstaatsvertrag geregelt. Also Deutschland hat das aufgesplittet. 

Den Löwenanteil aber wird das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz übernehmen. Und Deutschland muss diese Richtlinie bis Juni 2022 umsetzen. Und es ist eben ganz wichtig, dass wir das jetzt tun, weil wir ja im September Bundestagswahlen haben. Dann steht sozusagen eine neue Koalition und ehe dann der ganze Betrieb vorangeht, würden wir es bis Juni 2022 (also nach der Wahl) gar nicht schaffen, das fristgerecht umzusetzen.

So, das ist die Umsetzung! Gelten wird es aber sowieso erst sehr viel später, nämlich 2025. Dann geht es los, dass die Vorgaben zur Barrierefreiheit auch wirklich praktisch im Alltag umgesetzt werden müssen, im Alltag ankommen.

Matthias Klaus: Also das Gesetz muss verabschiedet sein bis nächstes Jahr. Dann gibt's aber Übergangsfristen, die dann erst anfangen zu laufen 2025 - nicht enden.

Christiane Möller: Genau die anfangen zu laufen in 2025. Das heißt, wir werden das Gesetz tatsächlich erst ab 2025 im Alltag wirklich spüren können. Und jetzt ist so ein bisschen die Frage: Was wird da eigentlich geregelt? 

"Barrierefreiheitsgesetz" klingt ja so sehr umfassend, aber so umfassend ist es gar nicht. Es betrifft bestimmte Produkte und Dienstleistungen. Und das Gesetz (deshalb kommt es auch aus Europa) soll sozusagen der "Harmonisierung des Binnenmarktes" dienen, so heißt das doch immer so schön.

Es soll also den europäischen Wettbewerb vereinfachen und dafür sorgen, dass barrierefreie Produkte und Dienstleistungen weniger Hürden beim Handel innerhalb Europas haben. Und das ist eigentlich der Hintergrund, warum Europa hier überhaupt aktiv wird.

Man hat sich entschieden, für bestimmte Produkte und Dienstleistungen Regelungen zu schaffen. Es ist ein Sammelsurium, wo man sich mal ein bisschen fragen kann: Wie kommt das eigentlich zustande? Man kann vermuten, dass es doch viel Lobby-Einfluss gab.

Die Behindertenverbände hatten sich damals mehr, viel mehr erwünscht und gehofft. Aber was haben wir jetzt? Wir haben jetzt Computer Hardware Systeme mit Betriebssystemen. Wir haben sowas wie Mobiltelefone. Wir haben Router, wir haben Bank Automaten, also sowohl Geldautomaten als auch Selbstbedienungsterminals in Banken. Sowas wie: Check-in Automaten im Verkehrsbereich, Ticketautomaten, Selbstbedienungs-Terminals, Automaten in Supermärkten zum Beispiel (also diese, wo man selber abkassiert), Zahlungsterminals (also auch die Idee: Wenn ich mit der Karte im Supermarkt bezahle mit Eingabe meiner PIN und so weiter). Also diese Automaten sind da dabei. Und bei den Produkten auch die E-Book-Reader.

Und dann haben wir Dienstleistungen, um einige zu nennen: Da sind Verkehrs-Dienstleistungen drin, wobei der Regionalverkehr ausgenommen ist und der Stadt-, Land- und Vorort-Verkehr. Dann haben wir Bankdienstleistungen in bestimmtem Umfang. Wir haben den elektronischen Rechtsverkehr, also auch so etwas wie den Online-Handel, Notrufnummer: Die einheitliche Notrufnummer 112 in Europa. Und der Zugang zu audiovisuellen Diensten: Das sind quasi die Plattformen, wo ich dann Streaming-Angebote nutzen kann von solchen Anbietern wie Netflix und Co.

Matthias Klaus: Das ist ja erst einmal eine ganze Menge, aber Barrierefreiheit ist ja mehr als digitales Wesen. Es gibt ja, und das wird auch im Moment sehr kritisiert von Aktivistinnen und Aktivisten das gesamte Thema Bauen, Wohnen, Straßenverkehr. Das wurde außen vorgelassen. Wie sehen Sie das? Kriegen wir da noch ein anderes Gesetz? Oder ist das einfach etwas, was die EU nicht betrifft? Oder warum ist das so gekommen?

Christiane Möller: Der European Accessibility Act sieht selber vor, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten die bebaute Umwelt, die mit diesen Dienstleistungen und Produkten zusammenhängen, gleich mitregeln kann nach einheitlichen Regelungen.

Also ganz praktisch heißt das dann: Deutschland kann regeln, dass nicht nur der Bankautomat barrierefrei ist, sondern dass er auch nur da stehen darf, wo ich auch rankomme an den Bankautomat und nicht zwei Stufen davor sind. Das ist so ein klassisches Beispiel. Dazu hat Deutschland eine Regelungskompetenz und Befugnis.

Und die Frage ist, ob Deutschland dem nachkommt. Momentan sieht der Bund hier keine Verpflichtung. Die Länder haben sich auch noch nicht gerührt und das wäre natürlich ein Skandal. Weil was nutzt der barrierefreie Geldautomat, wenn dann die Rollifahrer doch nicht drankommen?

Matthias Klaus: Ein kleiner Hinweis: Schauen Sie auf unsere Begleitwebsite. Dort finden Sie unter anderem einen Link zu einem Video was genau dieses Thema kurz und prägnant darstellt. Wir haben also bauliche Barrierefreiheit nicht in diesem Gesetz - man könnte es aber machen. Diese ganzen digitalen Sachen betreffen ja doch viel Blinde und Sehbehinderte. Deshalb beschäftigen sie sich ja auch damit. Aber es gibt ja auch andere Sachen: Was würde man denn noch unter Barrierefreiheit fassen und was würde man erwarten, dass so ein Gesetz regelt für andere Behinderungen? Also jetzt außer Bau?

Christiane Möller: Also es gibt natürlich verschiedene Regelungsbereiche, die wir uns da vorstellen: eigentlich den gesamten Bereich der Produkte und Dienstleistungen. Das ist auch kein "nice to have," sondern es ist die Grundvoraussetzung um teilhaben zu können. Ob das jetzt Haushaltsgeräte sind, um das mal ganz praktisch zu machen... 

Matthias Klaus: ...die berühmte Waschmaschine die man nicht bedienen kann.

Christiane Möller: ...total schwierig! Oder den Kaffeevollautomaten denn ich nicht mehr bedienen kann, oder den Herd. Das sind ganz klassische Dinge, um überhaupt selbstständig und selbstbestimmt wohnen zu können.

Gesundheitsleistungen sind auch ein Klassiker: dass ich überhaupt noch Blutzuckermeßgeräte bekomme, die ich auch bedienen kann, wenn ich das Display nicht lesen kann. Das ist ein ganz großes Problem aktuell.

Dann soll das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nur für Verbraucherinnen und Verbraucher gelten. Das ist schön, dass mein Computer für den Privatbereich jetzt barrierefrei sein soll. Aber es wäre schon verdammt wichtig, dass der beruflich genutzte PC oder das beruflich genutzte Bankkonto eben auch barrierefrei sein müssen. Denn das ist die Grundlage dafür, dass Menschen überhaupt am Arbeitsmarkt unterwegs sein können.

Solche Schlupflöcher gibt es da zuhauf in diesem Gesetz. Und da ist dringend weiterer Handlungsbedarf erforderlich.

Sprecher: Sie hören "Echt behindert!" den Podcast für Barrierefreiheit und Inklusion der Deutschen Welle. Wir sind auf allen gängigen Podcast Plattformen. E-Mail, Feedback und Kommentare an [email protected]. Mehr Infos und Links gibt es unter dw.com/echtbehindert. Und bewerten Sie uns, wo immer Sie uns hören.

Matthias Klaus: Ich hab's ja am Anfang gesagt: "Es gibt diverse Kampagnen, die gerade laufen." Auch, dass man z.B. seine persönlichen Abgeordneten anschreiben soll, dass man Aufrufe teilen soll. Es gibt einen Countdown im Internet, der die Tage zählt bis zum letzten Tag, wo der Bundestag seine letzte Sitzung hat.

Bis dahin müssten all diese Dinge geklärt sein. Es soll Druck ausgeübt werden. Sie selber schreiben ja auch "Gutachten oder Stellungnahmen auch für den DBSV." Welche Erfolge gab es denn bislang so von den ersten Entwürfen? Konnte denn auch mal was geändert werden oder sitzt man immer nur frustriert davor?

Christiane Möller: Naja, so ein Gesetzgebungsverfahren läuft ja so ab, dass erst mal aus dem Ministerium ein sogenannter Referentenentwurf kommt, zu dem Verbände dann auch Stellung nehmen können. Das haben wir auch gemacht.

Es war eine sehr kurze Stellungnahmefrist zu einem sehr komplexen Thema und dort haben wir doch ein bisschen auch erreichen können, dass sich noch etwas tut. Also zum Beispiel war erst mal ein ganz fürchterlicher Barrierefreiheitsbegriff geplant gewesen.

Und jetzt hat man doch eine Anbindung an die bekannte Definition, die in Deutschland etabliert ist, aufgenommen und sichergestellt, dass wir hier ein einheitliches Verständnis von Barrierefreiheit haben. Das ist wirklich ein großer Fortschritt.

Ein zweiter Punkt, der zu einer Verbesserung geführt hat, war das, dass ein Schlichtungsverfahren eingeführt wird, wo man sich an die Schlichtungsstelle beim Beauftragten der Bundesregierung für Belange von Menschen mit Behinderung wenden kann.

Da gibt's eine Schlichtungsstelle und dort kann man dann auch künftig gegen einen Wirtschaftsakteur, der Barrierefreiheit nicht beachtet, vorgehen - im Schlichtungsverfahren. Das ist eine niedrigschwellige Herangehensweise und wirklich ein sehr hilfreiches Instrument für Menschen mit Behinderung, Barrierefreiheit tatsächlich auch einzufordern und umsetzen zu können.

Das eine ist ja, dass es Vorschriften gibt, die zur Barrierefreiheit verpflichten. Aber Gesetze sind ja immer nur so gut, wie sie auch eingehalten und umgesetzt werden.

Das sind so zwei Positivbeispiele. Andererseits gibt's aber auch ein Negativbeispiel. Da ist nämlich vorgesehen, dass es Übergangsfristen für Selbstbedienungsterminals geben sollte. Ursprünglich war nur von 10 Jahren die Rede, was immer noch viel zu lang ist. Die wurden jetzt nochmal erweitert auf 15 Jahre. Also da hat sich offensichtlich die Lobby, vor allem der Banken durchgesetzt.

Und jetzt sind wir im parlamentarischen Verfahren. Und da gilt ja das alte Strucksche Gesetz: "Kein Gesetz kommt so raus, wie es reingegangen ist." Das heißt, wir versuchen natürlich jetzt noch so wie andere Interessenvertretungen auch, für Verbesserungen zu werben bei den Abgeordneten. Und wir müssen aber gleichzeitig auch darauf achten, dass das, was im jetzigen Gesetzentwurf steht, nicht auch noch wieder verschlimmbessert wird. 

Matthias Klaus: Sie haben konkrete Dinge, die geändert werden sollten, die verbessert werden müssen, die in diesem Entwurf nicht drin sind. Welche sind das?

Christiane Möller: Wir haben vier große Punkte. Zum einen wollen wir, dass der Nutzen von Barrierefreiheit nochmal viel stärker betont wird. Zweitens wollen wir, dass die Schlupflöcher geschlossen werden, die es jetzt im Entwurf gibt, dass wir eine starke Marktüberwachung bekommen, dass wir in den Übergangsfristen noch etwas tun.

Das ist das, was wir unmittelbar im Gesetz wollen. Und wir wollen auch, dass mindestens einmal der politische Wille geäußert wird, dass wir ganz bald weitere Bereiche der Produkte und Dienstleistungen ins Barrierefreiheitsrecht aufnehmen. Das ist uns ganz wichtig. 

Matthias Klaus: Also Marktüberwachung, wie funktioniert so was überhaupt? Was müsste man da machen?

Christiane Möller: Also es gibt Anforderungen, die Wirtschaftsakteure (das sind z.B. Hersteller von Produkten und Dienstleistungen) erfüllen müssen, um ein Produkt barrierefrei zu machen.

Sie prüfen aber selbst, ob Sie diesen Anforderungen gerecht werden oder nicht. Also Sie nehmen selber eine Bewertung vor. Wenn Sie bei einem Produkt zu dem Ergebnis kommen, dass es die Anforderungen erfüllt, dann machen Sie eine sogenannte Konformitätsbewertung und dann kleben Sie dieses CE-Kennzeichen drauf. Und dann geht das Produkt auf den Markt.

Das heißt, der Wirtschaftsakteur ist erstmal ganz alleine unterwegs. Und dann kann man sich ja vorstellen, dass so ein System nur gut funktioniert, weil irgendwie auf der anderen Seite jemand da ist, der das mal überprüft und guckt: "Machen die denn das alles richtig? Bewerten die richtig? Oder lassen die das Thema einfach auf sich beruhen und kümmern sich nicht um Barrierefreiheit?"

Das heißt: Es muss kontrolliert werden. Diese Kontrolle, die passiert unter anderem über die sogenannte Marktüberwachung. Und da ist in Deutschland vorgesehen, dass diese Marktüberwachung auf Länderebene organisiert werden soll. Das heißt, jedes Bundesland hat dann eine Marktüberwachungsbehörde. Die muss dann prüfen anhand von Stichproben oder auf konkrete Hinweise, ob ein Wirtschaftsakteur seinen Anforderungen gerecht wird oder eben nicht.

Und dann ist halt die große spannende Frage: "Wie effizient ist das Ganze gestaltet? Wie viel Personal ist da? Wie viel Geld ist da? Wie groß ist das 'Know-how,' was man hat, um überhaupt prüfen zu können? Ist da ein Produkt oder eine Dienstleistung - wie steht es um die Barrierefreiheit?"

Und da sind wir der Auffassung, dass das nicht allein den Ländern überlassen werden kann. Das Thema Barrierefreiheit ist erstens komplett neu. Wir haben es mit digitalen Produkten und Dienstleistungen zu tun, also mit globalen Playern, sozusagen auf der Wirtschaftsseite. Und ob die das Bezirksamt in Berlin irgendwo wirklich kontrollieren kann? Und dann trifft Brandenburg nochmal wieder vielleicht eine andere Entscheidung? 

Das halten wir nicht für den richtigen Weg und sind der Auffassung, dass eine zentrale Marktüberwachung organisiert werden muss. Unsere Vorschläge dazu waren, dass Behörden, die es auf Bundesebene schon gibt und die auch schon Marktüberwachung machen für andere Bereiche doch den Barrierefreiheitsbereich da gleich mit überwachen.

Also zum Beispiel die BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsausicht) die Macht ja Bankenaufsicht, ist eine Bundesbehörde. Warum kann die nicht gleich prüfen, ob der Geldautomat und die Online-Banking-Tools barrierefrei sind?

Wir haben auf Bundesebene schon Behörden, die Marktüberwachung machen und wir sind der Auffassung, die sollten dort den Bereich der Barrierefreiheit themenbezogen auch miterledigen. Das ist für uns ein wirklich wichtiger Punkt, weil ob Barrierefreiheit bei Produkten und Dienstleistungen da ist, wird sich maßgeblich daran entscheiden, wie gut überwacht und kontrolliert wird. 

Und der zweite Punkt ist: Wie gut sind die Rechtsdurchsetzungsinstrumente? Also wie gut kann ich als Bürgerin oder als Bürger dafür sorgen, dass den Verpflichtungen zur Barrierefreiheit nachgekommen wird?

Matthias Klaus: Gut, dann haben wir noch das Thema Fristen, also der berühmte Bankautomat, der 2040 barrierefrei sein soll. Das ist ja auch wahrscheinlich keine Regel, die Sie einfach so hinnehmen wollen.

Christiane Möller: Nein, auf gar keinen Fall. Es ist so, dass ja die Regelungen sowieso erst 2025 gelten. Also ab da geht es los. Das heißt, die Wirtschaft hat jetzt ja vier Jahre Zeit, sich darauf einzustellen, barrierefreie Produkte und Dienstleistungen dann anzubieten.

Und wir haben hier Übergangsfristen, die bei Selbstbedienungsterminals momentan geplant sind, bis 2040. Da gab es schon den Witz, ob eher das Bargeld weg ist oder der barrierebehaftete Geldautomat. Also das kann keiner wirklich ernst meinen, dass wir so lange Übergangsfristen haben sollen, um wirklich überall barrierefreie Selbstbedienungs-Terminals zu haben.

Deutschland hat sich auch über die UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet und über Verbote zu Benachteiligungen im Grundgesetz. Dem muss endlich Rechnung getragen werden. Und zwar nicht erst endgültig 2040 oder möglicherweise noch später, wenn es nach einigen Akteuren ginge.

Matthias Klaus: Wie lässt sich denn hier in dieses Verfahren noch einmischen? Was kann man jetzt konkret machen, wenn man das möchte?

Christiane Möller: Die einzelne Bürgerin oder der einzelne Bürger kann natürlich mit seinem Bundestagsabgeordneten vor Ort jetzt die nächsten zwei Wochen intensiv ins Gespräch kommen, soweit das machbar ist und die auch darauf aufmerksam machen, darauf drängen, dass wir wirklich ein gutes, ambitioniertes, Barrierefreiheitsgesetz - Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, so heißt es ja jetzt - brauchen. Und dass wir da wirklich vorankommen müssen.

Unser Eindruck ist nämlich, dass viele Abgeordnete im Bundestag noch gar nicht wissen, was hier eigentlich geplant ist, was hier auf uns zukommt. Denn es gab noch nicht einmal eine Debatte in der ersten Lesung. Das heißt, es gibt einen großen Aufklärungsbedarf auch noch unter den Abgeordneten. Auf Barrieren konkret anzusprechen und zu sensibilisieren, dass das ein wichtiges Gesetz ist für Bürgerinnen und Bürger, das ist wirklich wichtig, wichtig, wichtig.

Matthias Klaus: Möglichkeiten für Unterstützungsmöglichkeiten, für die Einmischung zeigen wir auf unserer Begleit-Webseite. Dort werden wir zu einigen Dingen verlinken, wo man sich hinwenden kann, wie man sich z.B. noch einmischen kann. Ich danke Ihnen, Frau Möller, dass Sie heute Zeit hatten, uns ein wenig Einblick in das juristische Begleitwesen der Barrierefreiheit zu geben und freue mich, wenn wir dann demnächst hören, dass alles viel besser geworden ist.

Christiane Möller: Sehr gerne.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Heute zu Gast Christiane Möller, rechts Referentin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes zum Thema Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Mein Name ist Matthias Klaus.

Sprecher: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.