6. Eine Schule für Alle?
28. Dezember 2020Zum Podcast geht es hier.
Moderator Matthias Klaus: Hallo und herzlich willkommen zu DW "Echt behindert!" dem Podcast für Barrierefreiheit und Inklusion. Genau um Inklusion geht es heute. Mein Name ist Matthias Klaus.
Seit die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft ist, seit 2009, haben behinderte Kinder auch in Deutschland das Recht auf inklusive Bildung. Sie gehen mit nicht behinderten Kindern in die Schule, lernen zusammen und sind auch sonst gesellschaftlich nicht isoliert.
Wenn ein Kind im Rollstuhl sitzt, eine Sehbehinderung hat oder Schwierigkeiten beim Lernen stellen die Schulen, die sich die Eltern ausgesucht haben, einfach die Mittel und das Personal bereit, die eventuell dadurch auftretenden Probleme zu lösen. Jedes Kind wird so gefördert, dass es optimal lernen kann. Das klingt doch ziemlich gut und so sollte es eigentlich sein.
Aber wenn es so wäre, dann wäre dieser Podcast jetzt schon zu Ende. Denn so ist es natürlich nicht. Denn Inklusion ist in Deutschland eine schwierige Sache, ein Thema, um das viel gestritten wird. Das Recht auf inklusive Bildung gibt es zwar, doch es mangelt an der Umsetzung oder am politischen Willen.
Auch gibt es Eltern, die ihr Kind lieber in eine Förderschule schicken wollen. Es gibt auch Eltern, die ihr Kind nicht mit behinderten Kindern zusammen lernen lassen wollen. Über all das möchte ich heute sprechen, und zwar mit Eva-Maria Thoms vom Verein Mittendrin e.V. in Köln. Schönen guten Tag, Frau Thoms.
Eva-Maria Thoms: Tag, Herr Klaus.
Matthias Klaus: Frau Thoms, was bringt Sie persönlich dazu, sich mit Inklusion zu beschäftigen?
Eva-Maria Thoms: Der Mittendrin e.V. ist ein Elternverein und da kann man jetzt kurzschließen: Ich habe auch Kinder. Ich habe zwei Kinder. Das eine Kind hat Abitur gemacht, Medizin studiert und ist jetzt gerade in der Facharztausbildung.
Das andere Kind hat eine Trisomie 21 und ist von daher im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung unterrichtet worden. Als sie eingeschult wurde, habe ich im Prinzip angefangen, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Das heißt eigentlich ein Jahr, anderthalb Jahre vorher.
Damals ging sie in einen integrativen Kindergarten und ich fand das eine schöne Erfahrung und habe damals schon gehört gehabt, dass es sowas in der Schule auch gäbe und habe mir das auch gewünscht für meine Tochter. Man musste dann aber anderthalb Jahre vor der Einschulung feststellen, dass es das nur theoretisch gab, dass es eigentlich keine Schule gab an unserem Wohnort, die Platz für sie gehabt hätte. Zumindest keine öffentliche Schule.
Matthias Klaus: In welchem Jahr war das ungefähr?
Eva-Maria Thoms: Das war im Jahr 2006.
Matthias Klaus: Also noch vor der UN-Behindertenrechtskonvention!
Eva-Maria Thoms: Genau!
Matthias Klaus: Aber seitdem ist nun viel passiert, und bis dahin war aber auch schon einiges passiert. Historisch gesehen: Inklusion gab es in Deutschland ja nicht. Was wir schon lange haben hier sind Förderschulen. Können Sie so ein bisschen erzählen, wie das in Deutschland überhaupt dazu kam, dass es hier Förderschulen gab und normale Schulen?
Eva-Maria Thoms: Na gut, also Förderschulen gibt es durchaus in anderen Ländern auch. Förderschulen gibt es seit mindestens 150 Jahren. Das begann mit besonderen Schulen für blinde Schüler und für gehörlose Schüler. Weil man damals eben festgestellt hatte, dass sie durchaus andere Anleitung brauchen und auch andere Dinge lernen müssen. Und weil auch diese Schüler zum Teil in den allgemeinen Schulen damals nicht unterrichtet worden sind.
Dann haben wir im vergangenen Jahrhundert ein sich stetig ausweitendes System von Hilfsschulen gehabt. Da ging es darum, dass Schüler, die Probleme hatten beim Lernen oder Schüler, die sich nicht so verhielten, wie man das für angemessen hielt, dann eben auf andere Schulen umgeschult wurden.
Ich weiß nicht, ob wir jetzt wirklich auf die Geschichte der Hilfsschulen im Nationalsozialismus eingehen sollten. Jedenfalls kamen wir in die Bundesrepublik Deutschland mit einem schon recht gut ausgebauten System von Hilfsschulen, die dann umbenannt wurden in Sonderschulen.
Wir hatten es bis in die 1960er Jahre hinein tatsächlich geschafft, dass fast alle Kinder beschult wurden. Fast alle, weil: Um das Bildungsrecht von Kindern mit einer geistigen Behinderung mussten Eltern noch durchaus lange kämpfen - und es ist ja eine Elternbewegung gewesen.
Der Verein Lebenshilfe ist ja auch als Elternbewegung gestartet, die im Prinzip erkämpft haben, dass Kinder mit geistiger Behinderung überhaupt ein Bildungsrecht haben und auf die Schule gehen dürfen. Und weil man damals - auch im Nachklang der Naziherrschaft und des Krieges und der gezielten Tötung von Menschen mit Behinderung - vor dem gesellschaftlichen Klima Angst hatte, dass sie gemobbt und ausgegrenzt werden, hat man sich damals dafür entschieden: eben für spezielle, getrennte Schulen für Schüler mit geistiger Behinderung zu kämpfen. So kam es dann auch zur Förderschule Geistige Entwicklung, die wir heute kennen.
Matthias Klaus: Nun ist es so, dass es die noch gibt, auch wenn es heute heißt: Eigentlich soll jedes Kind in die Schule gehen können, wo es möchte und auch nicht auf eine Spezialschule gehen. Wissen Sie, Förderschulen heute, jetzt nach 11 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention wird es mehr oder weniger? Klappt das? Gibt es wirklich weniger Förderschulen? Inzwischen gibt es weniger nötige Förderschulen?
Eva-Maria Thoms: Wir haben in vielen Bundesländern einen tatsächlichen Abbau bei den Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen, also für Kinder mit Lernbehinderung. Die Förderschulen für Kinder mit Sinnesbehinderungen und körperlichen Behinderungen sind mehr oder weniger genauso voll, wie sie es vor zehn Jahren auch waren. Die Förderschulen für Kinder mit geistiger Behinderung und für Kinder mit Verhaltensproblemen sind voller als vor 10 Jahren.
Matthias Klaus: Das ist ja überraschend. Gibt es dafür eine Erklärung?
Eva-Maria Thoms: Die Erklärung ist, dass wir mit der Inklusion in der Umsetzung nicht so wirklich gut vorangekommen sind. Wobei: Ich möchte jetzt auch nicht so ein einseitiges Bild zeichnen. Wir haben vor zehn Jahren dieses Recht für uns akzeptiert, sozusagen die UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland akzeptiert und gesagt: Ja, wir wollen jetzt, dass Kinder mit Behinderung eben ein Recht auf Inklusion haben und in den allgemeinen Schulen lernen können! Mit dem politischen Willen, das wirklich umzusetzen, ist es in den Bundesländern unterschiedlich bestellt.
Es zeigt sich natürlich auch in der Entwicklung: Immer wenn man ein großes gesellschaftliches Reformprojekt hat, wird man damit nicht erfolgreich sein, wenn man sagt: "Wir ändern jetzt mal die Gesetze und dann warten wir ab, was passiert".. Sondern für ein gesellschaftliches Reformprojekt braucht man immer auch Überzeugungsarbeit, eine gesellschaftliche Debatte und auch wirkungsvolle Umsetzungsregeln.
All diese Dinge haben wir eben nicht gemacht und das Ergebnis ist, dass wir statistisch gesehen in der Inklusion nicht besonders weit gekommen sind. Aber auch das erkennen wir nicht an, sondern wir reden in der Debatte immer darüber, die Inklusionszahlen würden so steigen. Da schmücken sich auch gerne die Bundesländer mit.
Das hat aber damit zu tun, dass heute viel mehr Kinder als früher eben das Etikett bekommen - einen sonderpädagogischen Förderbedarf bekommen. Wir haben heute ungefähr 90.000 Schüler mehr, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben als vor zehn Jahren.
Die sind in den allgemeinen Schulen. Und deswegen haben wir da nennenswerte und beachtenswerte Inklusionsquoten. Die Kinder, die früher auf Förderschulen gegangen sind, wenn ich das jetzt mal pauschal sagen darf, die sind da immer noch.
Matthias Klaus: Ich habe hier mal im Laufe des Podcasts ein paar Interviews geführt, ein paar Einspieler von ehemaligen Schülern, die sowohl inklusiv als auch auf einer Förderschule waren. Wir spielen jetzt mal den ersten ein. Das ist einer, der in den 1990er Jahren auf einer inklusiven Schule war. Er ist blind und gehörte zu den seltenen Exemplaren, die damals als Sinnesbehinderte auf eine sozusagen "normale" Schule gegangen ist.
Ehemaliger Schüler: Im Großen und Ganzen habe ich es auf keinen Fall bereut. Es gab viele Phasen, wo es auch sozial schwierig war. Ich war dann eher so ein Bisschen der Außenseiter, hatte mich mit zwei Klassenkameraden angefreundet, während die anderen irgendwie öfter vielleicht ins Kino gehen. Was ich auch interessant fand, aber da war so eine Gruppendynamik entstanden, in die ich dann ab der siebten Klasse nicht mehr so richtig rein kam.
Dieses seelische war ein Aspekt, wo ich sage: Das lief nicht so gut. Was aber trotzdem gut lief, dass ich diese beiden engeren Freunde zumindest hatte. Und auch vom Lernen und Arbeiten her konnte ich den meisten Fächern gut folgen und habe es auch dann, wenn das sehr, sehr schwer ging, auch versucht, durch Nachhilfeunterricht auszugleichen.
Insofern konnte ich das schon alles bewältigen. Es war auch immer interessant, auch im Klassenverband sich auch mal gegenüber Sehenden durchzusetzen und zu merken wie ist es überhaupt, wenn man vorher auf einer Blinden-Grundschule war?
Das hat mir schon sehr geholfen, mich auch ein bisschen für die spätere Zeit ab dem Studium oder Ausbildung dann vorzubereiten. Man sollte es vielleicht solange wie möglich inklusiv probieren, auch ruhig mit Schulwechsel, auch mit geeigneten ambulanten Lehrern - oder wie auch immer sich das heute nennt: pädagogischen Helfern. Das sollte man auf jeden Fall schon tun!
Aber wenn es eben trotz Schulwechsel oder Wechsel vom Personal wie auch immer nicht klappt, dann ist es überhaupt nicht schlimm, sich einzugestehen zu müssen, dass gerade, wenn es eine gute Förderschule geben sollte, zu sagen: Jetzt ist es so und dann macht man es eben auch so. Derjenige muss ja auch seelisch durchkommen - oder diejenige.
Das muss sowohl vom Stoff her klappen, aber man darf auch keine zu starken psychischen Belastungen haben. Wenn du das jahrelang hast, man wird gemobbt und fühlt sich wie ein Außenseiter: Das kann ja auch jemanden nachhaltig schädigen. Vielleicht ist dann auch manchmal die Förderschule die bessere Wahl. Das muss man eben in Ruhe versuchen auszutarieren und auszukundschaften.
Matthias Klaus: Das sind Erfahrungen, die sind jetzt 20 Jahre her. Vielleicht ist es heute anders. Was meinen Sie, Frau Thoms? Gibt es Fälle, wo man sagt, "Ja, da ist eine Förderschule besser"? Das kann das normale Schulsystem nicht aushalten. Gibt es wirklich Schüler, die nicht dafür gebaut sind? Jetzt für den Fall, dass es wirklich gut läuft?
Eva-Maria Thoms: Wer entscheidet denn, ob ein Schüler dafür nicht gebaut ist?
Matthias Klaus: Das weiß ich nicht.
Eva-Maria Thoms: Das ist einer entscheidende Frage.
Matthias Klaus: Es kann sein, dass die Eltern das finden - zum Beispiel. Oder dass ein Schüler sagt: Er kommt mit der Konkurrenz nicht klar - zum Beispiel. Das hat er hier erzählt, dass es da auch Momente gibt, wo man als Andersartiger in der normalen Schule nicht mitkommt.
Wenn ich mal so gucke, wie die Schule von meinem Sohn läuft, der ist jetzt 16 bis 17. Da würde ich sagen, die Schulen sind nicht so gebaut, dass da auf kooperatives Lernen abgestellt wird, sondern das ist einfach nur ein Gymnasium. Da könnte ich mir vorstellen, dass es schon schwierig ist.
Eva-Maria Thoms: Ja gut, aber muss die Alternative dann die Förderschule sein. Wenn man über Inklusion diskutiert, dann gibt es immer zwei Ebenen und die vermischen sich sehr oft und dann kommt es zu Missverständnissen.
Wir haben im Moment ein Schulsystem, das überhaupt nicht auf Inklusion ausgerichtet ist. Das heißt, wenn man heute die inklusive Schule wählt, dann hat man entweder Glück und man landet auf einer Schule, die sich wirklich gut darauf einlässt, die sich inklusiv entwickelt, in der man auch tatsächlich teilhaben kann als Schüler und Schülerin mit Behinderung. Oder aber man hat Pech.
Man kriegt zwar formal, weil es ist ja rechtlich so vorgesehen und die Eltern wollten das, Platz in der allgemeinen Schule. Aber eigentlich bekommt man schon bei der Anmeldung mit, dass die Schulleitung eher der Meinung ist, das sei keine gute Idee. Und dann geht es auch im Schulleben und im Unterricht so weiter. Das ist aber jetzt kein Zustand, den ich als Inklusions-Aktivistin akzeptieren würde.
Es gibt zwei Ebenen, über die man reden muss. Erstens: Wie wird Inklusion heute umgesetzt? Dazu würde ich sagen: Da muss sich noch ganz, ganz viel tun. Und das Zweite wäre: Was möchten wir denn und was fordern wir denn?
Was wir fordern sollten ist, dass es einen tatsächlich geplanten, durchdachten und sorgsam durchgeführten Ausbauprozess inklusiver Bildung gibt, der aber dazu führt, dass tatsächlich, wenn wir dort vorankommen, Schüler in einigen Jahren eben nicht mehr gefragt werden "Bist du vielleicht besser auf der Förderschule aufgehoben"? Sondern, dass zu diesem Zeitpunkt dann eben klar ist, "Nein. Wenn ein Schüler auf eine Schule kommt, dann wird die Schule sich auch entwickeln, so dass er dort auch optimal gefördert werden kann und in einem guten Klima und eben auch sozialer Einbindung lernen kann".
Es ist immer die Frage: Reden wir über die unzulängliche Zukunft oder reden wir über die Pläne und das Recht?
Matthias Klaus: Es geht ja auch um die unzulängliche Gegenwart. Wenn es Momente gibt, wo ich als Eltern entscheiden müsste, was mache ich jetzt mit meinem Kind? Und wie weit ist das System schon? Da habe ich eventuell das Problem, dass ich denke: Ich finde einfach keine geeignete Schule. Ich gebe auf und schick mein Kind in eine Förderschule, wo es vielleicht dann etwas besser lernen kann. Halten Sie das überhaupt für eine Option? Oder Meinen Sie der Ansatz ist falsch?
Eva-Maria Thoms: Nein, der Ansatz ist nicht falsch. Ich habe viel mit anderen Eltern zu tun und auch mit Eltern, die ihre Kinder an der Förderschule angemeldet haben. Wie freiwillig die Entscheidung war, das zu tun ist sehr unterschiedlich.
Es gibt tatsächlich Eltern, aber von denen habe ich gar nicht so viele getroffen, die grundsätzlich meinen, dass eine Förderschule für Kinder mit Behinderungen das bessere System wäre. Dann gibt's einen ganz großen Teil von Eltern, die sagen, "Ich möchte für mein Kind eigentlich Inklusion, weil ich möchte ja auch, dass es im Erwachsenenalter in der Mitte der Gesellschaft lebt. Und warum soll ich es dann jahrelang aus der Mitte der Gesellschaft entfernen? Wie soll denn das funktionieren"?
Sie stoßen aber auf mannigfaltige Widerstände, sodass sie dann am Ende aufgeben oder umdenken, so wie sie das gerade beschrieben haben und sagen, "Nee, es hat alles überhaupt keinen Zweck. Ich werde das auch nicht durchhalten. Das wird jahrelanger, immer wiederkehrender Ärger sein. Ich melde jetzt an der Förderschule an".
Und dann gibt es noch einen Teil von Eltern, die tatsächlich einen ganz, ganz starken Wunsch nach Inklusion haben und versuchen, das auch unter widrigen Umständen möglich zu machen, die dann zum Teil aber wirklich so lange unter Druck gesetzt werden, bis sie dann doch an der Förderschule anmelden.
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Matthias Klaus: Haben Sie eine Idee, warum sich denn das ganze System letzten Endes dagegen sperrt, wenn doch alle wissen, dass es eigentlich gut wäre und dass es auch für die Kinder gut wäre, dass auch die anderen Schüler etwas davon lernen können?
Trotzdem hat man so das Gefühl, man macht etwas, was irgendwie nicht gewollt ist. Wo ist da das Problem? Fehlt da das Geld oder ist es politisch nicht gewollt, weil man das alte Schulsystem nicht aufgeben will? Was haben Sie da für eine Meinung?
Eva-Maria Thoms: Erst einmal denke ich, wir haben uns als Gesellschaft, auch über die Jahrzehnte hinweg keinen Gefallen damit getan, mit der Trennung von allgemeinem Schulsystem und Förderschulsystem. Was man heute beobachten kann, ist eben von Seiten der großen Mehrheit der Bevölkerung, die mit Menschen mit Behinderung wenig Kontakt haben, eine ausgeprägte Unsicherheit und oft auch ein ganz ausgeprägtes Unwohlsein, wenn sie mit Menschen mit Behinderung zusammentreffen.
Wir haben uns im Prinzip - oder bestimmte Bevölkerungsgruppen haben sich - eben durch eine solche institutionelle Trennung auseinandergelebt. Das heißt: Man lässt sich jetzt, wenn man sagt: "wir wollen die inklusive Bildung aufbauen", darauf ein, diese Trennung wieder aufzuheben und muss sich dann auch mit den negativen Gefühlen, die damit unter Umständen verbunden sind, auseinandersetzen.
Das Zweite ist: Der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems bedeutet Veränderung. Veränderung ist immer anstrengend. Wenn man, als Schulsystem und als im Schulsystem Arbeitende, auch genug andere Themen hat, die anstrengend sind und um die man sich kümmern muss, dann ist man natürlich eher geneigt zu sagen, "Ach, das jetzt bitte nicht auch noch!"
Das Dritte ist, und da bin ich inzwischen gnadenlos: Der Fisch stinkt vom Kopf her. Wenn man als Politik eine UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, aber nicht wahrhaben will, was man dort unterschrieben hat und sozusagen sich selber damit nicht ausdrücklich auseinandergesetzt hat und nicht inhaltlich dahinter steht. Wenn man nicht in die Richtung informiert und keine politische Überzeugungsarbeit leistet, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Umsetzung nicht klappt.
Zynisch wird es, wenn man dann anschließend sagt, "Es klappt doch nicht, lasst uns damit aufhören."
Matthias Klaus: Wie es im Moment öfters läuft, weil wir es jetzt gerade immer wieder erleben: Ich habe jetzt hier mal einen weiteren O-Ton eines Schülers, der war auf einer inklusiven Schule.
Niklas: Ich war nicht nur der einzige Lernende in dem Fall mit einer Behinderung, sondern wir hatten zum Beispiel auch Autisten in der Klasse. Da waren schon ein paar andere dabei, die nicht ganz offiziell sind. Wir hatten da in der Regel zwei Lehrer in den Klassen, wenn es dann auch mal sein musste. Je nachdem, wie die Schüler-Zusammensetzung die Schülerinnen-Zusammensetzung war, war für die Stunde auch noch mal jemand extra dabei. Weil vielleicht ein Schüler mit Downsyndrom noch eine zusätzliche Erklärung brauchte.
Aber das konnten wir eigentlich auch ganz gut über so ein Gruppenarbeit-System lösen. Das ist eher so die Kerndisziplin, dass an dieser Schule sehr viel in Gruppenarbeit gearbeitet wird. Und das funktioniert natürlich auch über den Austausch untereinander oder der Schülerinnen sozusagen.
So, dass der Lehrer oder die Lehrerin vielleicht nur zur Korrektur eingreifen muss. Man arbeitet zusammen, zumindest an der Schule ist das so. Es ist ja auch im prospektiven Blick oder im Hinblick auf die Arbeitswelt und wie wir miteinander umgehen wollen, fördernd. Wir haben uns einmal die Alternative angeguckt.
Aber dadurch, dass meine Grundschule, auf der ich damals war, schon mal eine Kooperation mit der weiterführenden Schule hatte, war das relativ schnell klar, in welche Richtung es da geht.
Ich bin auch nachträglich meinen Eltern dankbar, dass ich persönlich auf keiner Förderschule war, weil ich glaube, dass mich das schon nochmal weitergebracht hat. Auch so, wie ich irgendwie mein gesellschaftliches Bild und auch mein Bestreben ausrichte.
Matthias Klaus: Nicklas von einer Kölner inklusiven Gesamtschule ist dafür, sagt auch, dass er hier was gelernt hat, auch für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Würden Sie sagen, dass diese inklusive Beschulung auch ein bisschen was in die Zukunft hat?
Normal ist die Gesellschaft auf Konkurrenz ausgerichtet, auf: Der Stärkere gewinnt. Das ist doch irgendwie nicht Inklusion, sondern das Gegenteil. Ist es da überhaupt möglich, Inklusion so zu leben, dass sie dann auch sich weiter später fortsetzt?
Eva-Maria Thoms: Wir haben ja in Deutschland wirklich eine Tradition an inklusiven Schulen. Wir haben sie nur früher integrativ genannt. Es gibt ja diese Schulen, die das machen und die das gut und erfolgreich machen, wirklich schon seit Ende der 70er und Anfang Mitte der 80er Jahre. Aber es hat sich eben nicht ins allgemeine Schulsystem verbreitet.
Wenn wir jetzt fragen, was ist eine gute Schule, in der eben alle Schüler tatsächlich eine richtig gute Bildung bekommen, dann müssen wir uns mal die Ergebnisse des Deutschen Schulpreises der vergangenen Jahre angucken. Das sind die inklusiven Schulen, die diesen Schulpreis abräumen jedes Jahr: Bei den Nominierten, bei den Nebenpreisen, zum Teil eben auch - wie in diesem Jahr - bei den Siegern.
Das heißt: Es passt irgendwie nicht zusammen, wenn wir in der Öffentlichkeit immer diskutieren, "Inklusion würde unsere Schulen schlechter machen und da würde keine Leistung mehr gebracht. Die Schüler würden nicht mehr genug lernen". Und wenn wir auf der anderen Seite sehen, dass gerade die inklusiven Schulen doch offensichtlich eine solche Qualität entwickeln für alle Schüler, dass sie dann anschließend Sieger des Deutschen Schulpreises werden.
Matthias Klaus: Ja, das ist ein Argument, wenn auch praktisch nach der klassischen Skala des "Gute Noten Kriegens", da vielleicht auch noch die besseren Noten gemacht werden, weil die Lernatmosphäre besser ist. Ich weiß das jetzt nicht genau, aber ich nehme an, dass Schulpreise auch auf sowas achten und nicht nur darauf, ob es nett ist oder nicht.
Eva-Maria Thoms: Ne ne, die achten mit Sicherheit darauf: Lernen denn die Schüler? Kommen, die in in ihrer Bildung voran? Lernen die auch das was wir für die Gesellschaft brauchen?
Das Schulsystem, das wir im Moment haben, das funktioniert ja anders. Das funktioniert ja nach dem Motto "Friss oder stirb". Entweder du bringst die Leistung, wie du es schaffst, ob du das im Unterricht kapierst, ob deine Eltern dir helfen, ob du irgendwie jede Woche fünf Stunden Nachhilfe nimmst - das interessiert uns nicht. Guck das du die Noten kriegst und dann kriegste hinterher den Abschluss.
Dann wird ein Unterricht gemacht, der ist für einen imaginären Durchschnittsschüler. Diejenigen, die eigentlich schneller lernen könnten, die langweilen sich und die anderen, die ein bisschen mehr Erklärung, ein bisschen mehr Zeit bräuchten oder einen anderen Lernzugang, die fallen hinten runter. Die bleiben sitzen. Die werden abgeschult.
Ist es das, was uns als Industrienation mit unserer größten Ressource, nämlich Human Capital, wirklich stärker macht in Zukunft?
Matthias Klaus: Sie würden sagen: Das ist kein Widerspruch - Leistung und Inklusion ist auf keinen Fall ein Widerspruch?
Eva-Maria Thoms: Auf keinen Fall. Ich muss Ihnen mal ganz ehrlich sagen: Mit einer der größten Gründe für mich für meine Tochter, um inklusive Schule zu kämpfen, war, das die Schule für Kinder mit geistiger Behinderung, also die Förderschule, nicht wirklich entschlossen wirkte meiner Tochter Lesen, Schreiben und Rechnen im Zahlenraum von 10 beizubringen. Für mich ist Leistung und die Möglichkeit Leistung zu erbringen und die Möglichkeit, etwas zu lernen ein ganz gewichtiger Faktor für Inklusion gewesen.
Matthias Klaus: Wenn man mal den Blick ein bisschen erweitert, wenn man Deutschland mit anderen Ländern vergleicht, gibt es Länder, wo sie sagen, da funktioniert das besser.
Eva-Maria Thoms: Man merkt das, wenn man Kinder mit Behinderung hat und wenn man reist. Dann merkt man schon, dass man in bestimmten anderen Ländern auf ein völlig anderes gesellschaftliches Klima gegenüber Menschen mit Behinderung stößt.
Man fährt z.B. nach Italien. Das Kind wird angeguckt, man steht überall im Mittelpunkt. Das gibt's da nicht! Da ist es völlig normal, dass Kinder mit einer Behinderung, auch Kinder mit einer geistigen Behinderung, einbezogen werden, dass sie da sind, dass sie mitlaufen. Das findet niemand unnormal. Das hat natürlich damit zu tun, wie eine Gesellschaft sich bildet, wie eine Gesellschaft aufwächst.
Bei uns ist es so: Jeder Jahrgang, der aus den Schulen kommt, ist wieder ein nicht inklusiver Jahrgang und füttert wieder nicht-inklusive Gesellschaft. In Italien ist es so, da gibt es eben keine Förderschulen. Da ist es völlig normal, dass die jungen Mitglieder der Gesellschaft, die eine Behinderung haben, von Anfang an dazugehören. Da stellt man das nicht mehr in Frage. Das gilt auch für Menschen mit anderen Behinderungen.
Ich bin auch mit meiner Tochter, wie gesagt, mit der sichtbaren geistigen Behinderung, in Italien gewesen. Ich bin in den USA gewesen und das war in beiden Ländern wirklich Erholung. Man reist dort ein - als Familie mit einem solchen Kind: Und all das, was man hier so schon für selbstverständlich erachtet: Dieses ständig angeguckt werden, diese ständige Unsicherheit der Menschen, mit denen man in Berührung kommt, das gibt es da alles nicht.
Da merkt man plötzlich, wie man durchatmet. Da merkt man dann auch, dass inklusiv Leben von Kindheit an tatsächlich auch die Gesellschaft positiv beeinflussen kann.
Matthias Klaus: Wenn sie so drauf gucken mit ihrem Verein - auch wofür sie kämpfen: In 10 Jahren, angenommen es wird politisch gut laufen, wie unterscheidet sich denn die Schule dann von der Durchschnittsschule von heute? Also nicht von der mit den Deutschen Schulpreisen, sondern von der normalen "Brot und Butter Frontalunterricht 32-Schüler-in-der-Klasse-Schule?"
Eva-Maria Thoms: Wenn es gut läuft?!
Matthias Klaus: Gerne, wenn es gut läuft. Vision!
Eva-Maria Thoms: Naja, wir sind im Moment gerade in einer Zeit, in einer Krise, in der wir merken, wie wichtig Bildung ist und dass wir da in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich geschludert haben und dieses Bildungssystem auch sehr heruntergewirtschaftet haben.
Ich würde mir wünschen, dass - sobald wir aus dieser Krise herauskommen - wir uns besinnen, tatsächlich deutlich mehr in unser Schulsystem stecken. Wir brauchen mehr Lehrer. Wir brauchen besser ausgebildete Lehrer. Wir brauchen Schulgebäude, in die man gerne geht, in denen man auch zur Toilette gehen kann, ohne einen Herpes zu kriegen.
Dann müsste natürlich was für die Ausbildung getan werden bzw. für die Fortbildung der Lehrer, das tatsächlich moderne Unterrichtsformen einen ganz breiten Raum bekommen. Dass eben das, was wir als immer noch vorwiegende Unterrichtsform gerade in der Sekundarstufe - nämlich den Frontalunterricht - haben, dass der tatsächlich reduziert wird auf einzelne Unterrichtsituationen, in denen es noch sinnvoll ist.
Ich würde mir wünschen, dass das gemeinsame Lernen insgesamt ausgebaut wird, nicht nur für Kinder mit Behinderung, sondern dass wir von diesem komischen deutschen deutschsprachigen Sonderweg des gegliederten Schulsystems endlich mal versuchen, uns in die Richtung zu bewegen, in der es eigentlich alle anderen Länder der Welt machen, nämlich Kinder und Jugendliche mindestens bis zum achten Schuljahr gemeinsam zu unterrichten.
Dann die Schule darauf auszurichten, dass Kindern Futter geboten wird, sodass sie gerne lernen. Bei uns habe ich immer einen Eindruck, wenn über Schule geredet wird, dann denken immer alle daran: Da muss Druck, Druck, Druck hinter, weil ansonsten sind die jungen Leute alle zu faul.
Wenn man sich das mal anguckt: Wenn Kinder in die Schule eingeschult werden, sind die unglaublich wissbegierig und das ist eine Tragödie zu sehen, wie dann ein oder zwei Jahre später ein Teil der Schüler schon ausgestiegen und völlig frustriert ist. Das kann es ja nicht sein. Wir bräuchten Häuser der Bildung, in denen unsere Kinder und Jugendlichen Spaß haben und vorankommen.
Matthias Klaus: Was müssen wir tun, damit das so wird?
Eva-Maria Thoms: Ich glaube, wir müssten erst einmal ganz viel diskutieren. Wir müssten uns endlich mal wieder trauen, über Schule und Bildung zu diskutieren und nicht irgendwie in jedem Bundesland einen Burgfrieden, Schulfrieden, sonst-etwas-Frieden schließen und Debatten abschneiden.
Wenn über Schule diskutiert wird in diesem Land ist das sehr oft klischeebeladen und man hat den Eindruck, es geht um die Schule, wie wir sie vor 50 Jahren hatten, weil viele, die da mitdiskutieren, gar keine Anschauung mehr haben, wie Schule heute funktionieren könnte.
Matthias Klaus: Eva-Maria Thoms vom Verein Mittendrin e.V. in Köln. Inklusions-Aktivistin heute hier zu Gast im Podcast "Echt behindert!". Das war es auch für heute.
Frau Thoms, ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie sowohl Ihre Sichtweisen erklärt haben als auch uns Einblicke in das Schulsystem in Deutschland gegeben haben, wo es herkommt und auch wie es vielleicht einmal werden würde.
Eva-Maria Thoms: Danke Ihnen!
Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Name ist Matthias Klaus.
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Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.