Zwischen Traum und Wahn
26. August 2013Schon beim ersten Blick in die Jahrhunderthalle gerät das Publikum ins Staunen: Die Bühne gleicht einem faszinierenden Instrumentenmuseum, die Bühnenbilder bestehen aus knapp 40 gigantischen hölzernen Schlag- und Zupfinstrumenten. Aber auch Radkappen, Bambusrohre und leere Whiskyflaschen sind zu Instrumenten umfunktioniert, denen die Musiker des Ensembles musikFabrik fremd anmutende Töne und archaische Rhythmen entlocken.
Spannend ist dabei vor allem die Art und Weise, wie die Musik entsteht: In Harry Partchs wohl bedeutendstem Werk "Delusion of the Fury" (Wahn der Wut) mutiert das Musizieren zum Theaterstück. Der Wechsel von einem Instrument zum anderen ist inszeniert, die Wege gleichen einer Choreographie. Die Musiker werden zu Darstellern, die mit Instrumenten, Requisiten und Kostümen hantieren und in wechselnden Gruppierungen rituell wirkende Gesänge anstimmen. Für den Regisseur und Ruhrtriennale-Chef Heiner Goebbels entsteht durch dieses "körperliche Musikmachen eine Musik, die mitreißt, obwohl - oder besser - weil man sie nicht kennt."
Ein neues Tonsystem mit mehr Poesie
Harry Partch, 1901 in Oakland, Kalifornien, geboren, gilt als einer der originellsten US-amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er war stets ein Einzelgänger und Rebell. Zu seinen Fans zählten György Ligeti, Frank Zappa oder Tom Waits. Als Partch nach einem kurzen Studienaufenthalt in Europa Mitte der 1930er Jahre in die Heimat zurückkehrte, herrschte die Wirtschaftskrise. Wie vor ihm schon der Schriftsteller Jack London schlug auch Partch sich zehn Jahre als Wanderarbeiter durch, reiste als "Hobo" per Güterzug von Job zu Job.
In dieser Zeit stellte der kreative Kopf nicht nur verkrustete Gesellschaftsstrukturen in Frage, sondern auch die etablierte Musikkultur: Die westliche Musik erschien ihm viel zu "verkopft", zu kalt und intellektuell. Stattdessen entwarf er seine ganz eigene Musikästhetik: Tonhöhen und rhythmischen Impulse sollten in seiner Musik unmittelbar körperlich erfahrbar sein, sinnlich und leidenschaftlich. Ausgehend von der Melodik menschlicher Sprache entwickelte er so ein neues Tonsystem, das nicht in zwölf, sondern in 43 Töne unterteilt ist. Um diese Musik überhaupt spielen zu können, baute er neue Instrumente und gab ihnen so poetische Namen wie "Blue Rainbow" oder "Castor und Pollux".
Exotische Kreationen
Dabei nahm Harry Partch allerdings in Kauf, dass seine Werke nur selten gespielt werden konnten und in Europa unbekannt blieben. Denn die Originalinstrumente, die heute an der University of Montclair im US-Bundesstaat New Jersey aufbewahrt werden, sind nicht transportfähig und dürfen nur noch zu Studienzwecken benutzt werden. Dem Ensemble musikFabrik und dem Kölner Schlagzeuger und Instrumentenbauer Thomas Meixner ist es zu verdanken, dass Nachbauten dieser exotischen Kreationen nun in der Bochumer Jahrhunderthalle zu erleben sind. Über zwei Jahre hat Meixner am Nachbau gearbeitet, ist sogar nach New Jersey gereist, um die Instrumente zu studieren - darunter ein riesiges Xylophon, skurrile Glas-Glockenspiele, Hackbretter, Holzblasinstrumente und ein Harmonium mit Partch-Stimmung und farbiger Tastatur, das Chromelodeon. Die Musiker des Ensembles musikFabrik mussten die Handhabung der bizarren Instrumente erst mal erlernen, bevor sie sie mit ungeheurer Spielfreude zum Klingen bringen konnten.
"Erfahrung mit allen Sinnen"
Für Heiner Goebbels, für drei Jahre zum künstlerischen Leiter der Ruhrtriennale gewählt, hat Harry Partch mit "Delusion of Fury" ein Musiktheater geschaffen, "das zu einer Erfahrung mit allen Sinnen einlädt". Tatsächlich kann man sich dem Zauber der zugleich fremd und vertraut erscheinenden Klänge zwischen Pop- und Minimalmusik, zwischen mitreißenden Rhythmen und kurzen melodischen Motiven, kaum entziehen. Die Handlung ist eigentlich Nebensache. Sie basiert auf japanischen und afrikanischen Mythen: Ein japanischer Pilger trifft den Geist seines getöteten Gegners. Beide schließen Frieden. Im zweiten Akt gerät eine Ziegenhirtin in Streit mit einem Landstreicher. Ein blinder und tauber Richter schlichtet: Beide Akte enden mit der Bitte: "Pray for me!"
Die Musiker-Darsteller der musikFabrik übernehmen dabei alle Rollen und kommentieren die Ereignisse wie im antiken Drama als Chor mit rituellen Gesängen, die erst asiatisch, später indianisch angehaucht sind. Wechselnde Lichtstimmungen schaffen dabei immer neue Perspektiven voller Poesie, Magie und Humor, eine Welt zwischen "Traum und Wahn", wie Harry Partch es genannt hat – ein Stück Theater, das von der ersten bis zur letzten Sekunde fesselt.