Trügerisches Idyll
1. Mai 2013Es war ein warmer Tag nach einem langen Winter. Meine dreijährige Schwester und ich genossen die ersten Sonnenstrahlen. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Tag unser Leben von Grund auf verändern würde.
Erst Wochen später kursierten die ersten Gerüchte, dass sich wohl eine schlimme Explosion in Tschernobyl ereignet hätte. Niemand wusste Genaueres, denn es gab keine offiziellen Informationen. Wie wir später erfuhren, wurden sie vom Staat geheim gehalten, damit in der Bevölkerung keine Panik ausbricht.
Nur Gerüchte
Dennoch gab es Warnhinweise. Ich verstand damals nicht, warum wir bei dem herrlichen Wetter nicht mehr draußen spielen durften und weshalb sich alle plötzlich vor dem Regen fürchteten. Den Grund erfuhr ich erst Jahre später: Rund 70 Prozent des radioaktiven Regens waren über meinem Heimatland Belarus niedergegangen.
Das wahre Ausmaß der Tschernobyl-Katastrophe sickerte erst nach und nach durch. Und je mehr Details ans Tageslicht kamen, desto mehr packte mich das Thema.
Unsichtbare Gefahr
Als Studentin besserte ich meinen Geldbeutel auf, indem ich deutsche Touristen in die stark verstrahlten Gebiete als Dolmetscherin begleitete. In die 30-Kilometer-Sperrzone um das Atomkraftwerk durften wir nur mit einer Sondergenehmigung der Regierung.
Das Bild, das sich uns bot, lässt mich bis heute nicht los: eine blühende Landschaft, tiefgrünes Gras, ein stahlblauer Himmel und herrlich frische Luft. Nur die melonengroßen Äpfel auf den Bäumen passten nicht so recht ins Bild. Einwohner sagten, diese Äpfel seien die einzigen sichtbaren Beweise der überhöhten radioaktiven Strahlung. Trotzdem wurden sie geerntet und gegessen, wie auch alles andere Obst und Gemüse, das dort wuchs.
Leben der Rückkehrer
Die Menschen in der Sperrzone ernährten sich hauptsächlich von der Natur, da es keine Infrastruktur gab. Alle öffentlichen Einrichtungen und Geschäfte waren seit dem Reaktorunfall geschlossen. Von den mehreren Hunderttausend Einwohnern der 30-Kilometer-Zone, die über Nacht ihre Wohnungen und Häuser räumen mussten, kehrten bald einige zurück, da sie sich ihrer alten Heimat verbunden fühlten. Trotz der überhöhten Radioaktivität gaben sie vor, keine gesundheitlichen Probleme zu haben, sie schienen mit ihrem Leben zufrieden zu sein.
Umso unverständlicher war es für mich, warum wir uns in dieser herrlichen Gegend höchstens zwei Stunden aufhalten durften und danach unsere Schuhe vernichten mussten. Welcher Gefahr ich mich aussetzte, begriff ich erst, als ich nach meinem dritten Einsatz als Dolmetscherin in der Sperrzone starke Kopfschmerzen bekam, die mehrere Tage andauerten. Ich suchte einen Arzt auf, der besorgniserregende Schilddrüsenwerte feststellte und mir dringend von weiteren Fahrten in die verstrahlten Gebiete abriet. Ich hörte auf ihn.
Unabsehbare Langzeitfolgen
Später, als ich für die DW zu arbeiten begann, recherchierte ich weiter. Ich interviewte Wissenschaftler, Zeitzeugen und Umweltaktivisten und traf zahlreiche Menschen, die infolge der Tschernobyl-Katastrophe schwere gesundheitliche Schäden davongetragen hatten. Besonders betroffen sind immer noch die Kinder. Viele leiden schon im jungen Alter an verschiedenen Krebserkrankungen, Heilungschancen gibt es kaum.
Bei meinen Recherchen wurde mir klar: Das ganze Ausmaß der Atomkatastrophe von Tschernobyl ist immer noch nicht absehbar. Mit den Folgen werden noch mehrere künftige Generationen zu kämpfen haben.