Tschechien will drei Meere verbinden
25. November 2020Bohumín, ein Städtchen an der tschechisch-polnischen Grenze, liegt in Schlesien, dem mitteleuropäischen Ruhrgebiet. Vor 150 Jahren begann hier die großflächige Kohleförderung. Um Fördertürme, Eisenhütten und Schwerindustriefabriken bildete sich ein Konglomerat aus Städten, verbunden durch ein dichtes Netz aus Eisenbahnlinien und Straßen. Heute leben beiderseits der Grenze sechs Millionen Menschen.
Niemand würde hier, im 20.000-Einwohner-Ort Bohumín, erwarten, auf ein Stück idyllische und unberührte Natur zu treffen: auf die Meander der Oder, kurz bevor der tschechisch-polnische Grenzfluss Olsa in sie einmündet. An einem kalten Herbsttag steht Lucie Balcárková, die Chefredakteurin der Bohumíner Gemeindezeitung "Oko", auf der malerischen Halbinsel im Zusammenfluss von Oder und Olsa. "Das ist das schönste Stück Natur, das wir hier haben", sagt sie.
Ringsumher Auenwälder und absolute Stille. Im bemerkenswert sauberen Wasser schwimmen viele Fische. Hier leben Biber und Fischotter, hier nisten Adler, auch den Eisvogel kann man hier finden. Das Gebiet am Zusammenfluss von Oder und Olsa ist Teil von "Natura 2000", einem europäischen Netzwerkes von Schutzgebieten. "An den Ufern bilden sich bei Niedrigwasser Sandstrände. Wasserwandern ist hier ein schönes Erlebnis und in der Region sehr beliebt", sagt Lucie Balcárková.
Pläne gab es schon viele
Diese Naturidylle ist nun in Gefahr. Bohumín soll Teil des Kanal-Großprojektes Donau-Oder-Elbe werden, durch das Tschechien mit dem Schwarzen Meer, der Nordsee und der Ostsee verbunden wird. Die Pläne für eine solche Wasserstraßenverbindung reichen lange zurück. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in der damaligen Tschechoslowakei immer wieder aufgegriffen, aber nie umgesetzt. In den vergangenen Jahren nun war es Tschechiens Staatspräsident Miloš Zeman, der sich mit großem Nachdruck für das Projekt einsetzte. Deshalb steht es inzwischen so nah an einer Realisierung wie nie zuvor.
Die meisten Menschen in Bohumín beunruhigt das zutiefst. "Für uns steht fest: Die Meander der Oder dürfen nicht beeinträchtigt werden", sagt Petr Vícha, der langjährige Bürgermeister der Stadt. In seinem Büro beugt er sich über die Pläne mit den verschiedenen Streckenverläufen des künftigen Kanals in der Nähe von Bohumín. Da über das Projekt jedoch schon seit Jahrzehnten gesprochen wird, bleibt er skeptisch. "Warten wir ab, ob in zehn Jahren, wenn wir uns hier wieder treffen, schon etwas gebaut wurde", meint er.
Milliarden für die Oder-Schifffahrt
Staatspräsident Zeman jedenfalls macht systematisch Druck, um das Projekt zu verwirklichen. Nicht nur in Tschechien. Er bringt den Kanal auch bei allen Verhandlungen, die er seit seinem Amtsantritt 2013 mit mitteleuropäischen Politikern führt, zur Sprache. "Ich möchte, dass Stettin wieder ein tschechischer Hafen wird", sagte er schon 2013 in Warschau. Dort fand er Gehör: Polen, zu dem die Stadt an der Mündung der Oder gehört, unterstützt das Kanalprojekt.
Zu Hause hatte Zeman es schwerer. Dennoch gelang es ihm, das Projekt in das Programm der jetzigen Minderheitsregierung von Premierminister Andrej Babiš einzubringen. Das Verkehrsministerium legte Ende 2018 eine Studie für den Bau des Kanals vor, derzufolge das Gesamtprojekt fast 600 Milliarden Kronen (22 Milliarden Euro) kosten würde. Vor wenigen Wochen nun stellte die Regierung 15 Milliarden Kronen (550 Millionen Euro) für ein kleines Teilprojekt zur Verfügung: die Schiffbarmachung der Oder von der polnischen Grenze bis nach Ostrava, dem tschechischen Schwerindustrie- und Bergbauzentrum. Dabei geht es um ein rund zwölf Kilometer langes Stück Fluss.
Während das gesamte Projekt Donau-Oder-Elbe momentan noch Utopie ist, nimmt die Anbindung von Ostrava an eine bis Stettin schiffbare Oder bereits reale Züge an. Polen investiert in dieses Vorhaben schon seit Jahren. Für Warschau ist die Anbindung Tschechiens ein Schlüsselprojekt, weil dadurch für die gesamte Schiffbarmachung der Oder Fördermittel aus EU-Fonds für strategische Verkehrsprojekte fließen. "Mit Polen verhandeln wir, damit die Oder in das transeuropäische Verkehrsnetz TEN-T aufgenommen wird und wir auf EU-Mittel zugreifen können", sagt der stellvertretende tschechische Transportminister Jan Sechter.
Unpopulärer Zeman, unpopulärer Kanal
Das Mammutprojekt hat viele Kritiker, vor allem Umweltschützer. Doch selbst für die kleine Oder-Variante ist das Haupthindernis ein anderes: Es ist ihr wichtigster Unterstützer – Präsident Miloš Zeman selbst. Seine Popularität sinkt in Tschechien immer weiter, unter den gut Gebildeten im Land ist er sogar extrem unbeliebt.
In der tschechischen Öffentlichkeit ist das Kanalprojekt Donau-Oder-Elbe deshalb inzwischen zu einem Symbol des unbeliebten Präsidenten und der von vielen als inkompetent angesehenen Regierung unter Andrej Babiš geworden. Zahlreiche Politiker, selbst in Babiš Regierungspartei ANO, lehnen das Projekt als unwirtschaftlich und nicht nachhaltig ab.
Das Stadtparlament von Ostrava, in dem die unterschiedlichsten politischen Parteien verteten sind, sprach sich einstimmig gegen den Kanalbau aus. Dass Zeman dennoch so hartnäckig auf die Umsetzung des Projektes drängt, erklärt der Politikwissenschaftler Lukáš Jelínek mit dem Wunsch des Präsidenten, als Vater eines großen Bauvorhabens in die Geschichte einzugehen. "Ein so großes Projekt in Mähren und Böhmen ist natürlich etwas, an das sich die Menschen immer erinnern würden", so Jelínek.
Der Traum von der Verbindung dreier Meere mit Tschechien kam schon im 14. Jahrhundert auf – in der Regierungszeit von Kaiser Karl IV. Auch in der Habsburger Zeit gab es Überlegungen zu einem solchen Kanalprojekt. Mit dem Bau begonnen wurde schließlich in der Zeit der Nationalsozialisten, nach der Annexion der Tschechoslowakei – um bald darauf wieder unterbrochen zu werden. Nun könnte das Projekt einen endgültigen Abschluss finden, wenn in gut zwei Jahren die Amtszeit des tschechischen Präsidenten endet: als "Zemans Idee" auf dem Papier.
Der Autor ist Europaredakteur der tschechischen Tageszeitung "Deník".