Tsipras sucht den Schulterschluss
17. November 2015Nachdem Tsipras und sein türkischer Amtskollege Ahmet Davutoglu am Dienstagabend gemeinsam das Fußball-Freundschaftsspiel zwischen Griechenland und der Türkei in Istanbul verfolgen, wird es ernst. Der griechische Premier reist nach Ankara zu Gesprächen mit Davutoglu und dem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Es gibt wohl einiges zu bereden, da Griechenland als Eingangstor in die EU für Migranten aus Syrien und dem Nahen Osten gilt - und der Türkei eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zukommt.
Nach dem jüngsten EU-Sondergipfel zur Flüchtlingspolitik gab sich Tsipras zufrieden, da es ihm gelungen sei, "unlogische Ansätze" zur Bewältigung der Krise zurückzuweisen. Dazu gehöre aus seiner Sicht der Brüsseler Vorschlag, in Athen ein riesiges Auffanglager für 50.000 Flüchtlinge zu errichten - vor allem aber die Forderung, die türkische und die griechische Küstenwache sollten gemeinsam in der östlichen Ägäis patrouillieren. Die Regierung in Athen sträubt sich dagegen, weil sie einen Souveränitätsverlust befürchtet. Griechischen Medien zufolge sei die Türkei ebenfalls nicht begeistert von diesem Vorschlag. Skeptisch zeigt sich auch Thanos Dokos, Leiter der Athener Denkfabrik ELIAMEP: Gemeinsame Patrouillen würden mehr Probleme schaffen als lösen, warnt er im Gespräch mit der DW. Denkbar sei allerdings eine Kompromisslösung: Dass gemeinsame Einsätze der griechischen und der türkischen Küstenwache von der EU-Grenzschutzagentur koordiniert werden, erläutert Dokos.
Zögerlicher Annäherungsversuch
Aus griechischer Sicht habe das Nachbarland eine Mitverantwortung für die Flüchtlingskrise, da es sich weigere, das sogenannte "Rücknahmeabkommen" mit der EU in vollem Umfang umzusetzen. Im Jahr 2013 hatte der damalige Ministerpräsident Erdogan diesen Vertrag mit der EU-Kommission unterzeichnet und dadurch die Verpflichtung übernommen, Flüchtlinge wieder aufzunehmen, die über die Türkei in die EU gelangen. Im Gegenzug erklärte sich Brüssel bereit, Gespräche über eine Lockerung der Visumspflicht für türkische Staatsangehörige aufzunehmen. Allerdings haben diese Gespräche zu keinen nennenswerten Ergebnissen geführt. Was nun? Dokos meint, die Türkei sei ein "Teil des Problems", weil sie islamistische Oppositionsgruppen in Syrien unterstützt habe und zudem Flüchtlinge aus dem Nahen Osten durch ihre Untätigkeit ermutige, das Weite zu suchen und nach Europa zu fliehen. Zugleich müsse das Nachbarland allerdings auch als ein "Teil der Lösung" betrachtet werden, da es bereits im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise erhebliche Lasten auf sich genommen habe, gibt Dokos zu bedenken.
"Allein schon wegen ihrer Größe kann die Türkei wie kein anderes Land als Bollwerk gegen Flüchtlingsströme dienen", meint der Politikexperte. Mit gemischten Gefühlen blickt derzeit auch die griechische Presse in Richtung Osten. "Die Entscheidung des Ministerpräsidenten, nach Ankara zu eilen, ist absolut gerechtfertigt, zumal die EU sich nicht auf eine gemeinsame Position einigen kann", erläutert Politik-Experte Jannis Kartalis in der Wochenzeitung To Vima. Dagegen moniert das auflagenstärkste Athener Blatt Ta Nea, Tsipras habe sich kaum auf seinen Besuch in Ankara vorbereitet, obwohl die EU-Partner und Kreditgeber Griechenlands derzeit angeblich ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Türkei richteten.
Tsipras will als Vertreter Europas auftreten
Offenbar will der Linkspremier zwischen den Interessen lavieren, um möglichst große Schnittmengen mit dem Nachbarstaat auszuloten. "Tsipras hat nur dann Chancen auf Erfolg, wenn er als Überbringer der Vorschläge Europas auftritt", sagt Angelos Syrigos, Assistenzprofessor für Außenpolitik an der Panteion-Universität in Athen, der Zeitung Kathimerini. Das wird allerdings nicht einfach, erläutert Thanos Dokos: "Griechenland wird von der Flüchtlingskrise am schwersten getroffen, gehört nicht zu den mächtigen Ländern Europas und kann der Türkei keinerlei Gegenleistung anbieten. Weder Zuckerbrot noch Peitsche stehen zur Verfügung".
In einem Beitrag für die türkische Zeitung Sabah am Dienstag erklärte Premier Tsipras selbst, wie er sich eine Annäherung vorstellt: Erforderlich sei ein "substanzielles Abkommen" zwischen der EU und der Türkei, damit die Flüchtlinge verwaltet, unterstützt oder umgesiedelt würden. Auch das Rücknahmeabkommen von 2013 bringt der griechische Regierungschef zur Sprache. Er sagt aber auch: Ohne Frieden in Syrien oder im Irak, ohne eine Stabilisierung der Rechtsordnung in Afghanistan, sei ein Ende der Flüchtlingskrise nicht in Sicht.