Tuchel tüftelt am neuen BVB
29. Juli 2015Wer Thomas Tuchel in diesen Tagen beobachtet, erlebt einen überraschend lockeren Übungsleiter. Der neue BVB-Coach flachst mit seinen Assistenten, auffällig oft lobt er seine Spieler, immer wieder huscht ihm ein Lächeln übers Gesicht. Tuchel versprüht Freude. Nach den Trainingseinheiten sucht er häufig Kontakt zu den Fans, posiert geduldig für Selfies und schreibt Autogramme.
"Ein sympathischer Typ", war immer wieder aus den Reihen der Anhänger zu hören, die ins Trainingslager nach Bad Ragaz in die Schweiz gereist waren, wo sich der BVB bis vor Kurzem auf die neue Saison vorbereitete. Und auch die Spieler waren angetan. "Im gesamten Team ist der Wille spürbar, etwas Neues zu lernen. Es macht Spaß, mit ihm zu arbeiten", berichtete Neuzugang Gonzalo Castro.
Dem Entertainer folgt der Analytiker
Aus Spaß wird an diesem Donnerstag Ernst: Im Hinspiel der Europa-League-Qualifikation treffen die Dortmunder auf den österreichischen Vertreter Wolfsberger AC (21.05 Uhr im DW-Liveticker). Es ist das erste Pflichtspiel für Tuchel an der Seitenlinie, nach gerade mal vier Wochen Vorbereitung. Und zugleich der Startschuss für die Zeit nach der Ära Jürgen Klopp. Sieben Jahre lang war Menschenfänger und Entertainer "Kloppo" der Mittelpunkt in der bisweilen überemotionalisierten BVB-Welt. So gesehen ist der Neuanfang unter Tuchel auch eine Chance. Weg vom Personenkult um Klopp hin zu einem rationaleren Ansatz. Wieder mehr Fußball statt überstrapazierter "Echte(r) Liebe".
Eine Revolution hat Tuchel in den ersten Wochen nicht entfacht, er ist vielmehr dabei, den BVB behutsam umzukrempeln. Zum Beispiel in so simplen Dingen wie der Ernährung. Der jahrelange italienische Lieferant musste gehen, künftig soll der Koch des klubeigenen Jugendhauses auch für das Mittagessen der Profis sorgen. Zudem hat Tuchel seinen eigenen Video-Analysten Benjamin Weber aus Mainz mitgebracht, der in Bad Ragaz die Trainingseinheiten eifrig filmte. "Durch Sehen und Nachahmen gibt es nun mal einen großen Lerneffekt, das geht uns allen so", beschreibt Tuchel die Maßnahme. GPS-Westen, die die Spieler beim Training um den Brustkorb tragen, zeichnen nebenbei Daten zur Laufleistung und Belastung auf.
Schwierige Personalentscheidungen
Spielerisch will Tuchel nach Jahren des unter Klopp praktizierten "Gegenpressings", mittlerweile berühmt und vielerorts kopiert, den BVB wieder variabler und unberechenbarer machen. Im Fokus steht das Ballbesitzspiel, Dortmund soll dominanter auftreten als unter Vorgänger Klopp. In Bad Ragaz wurde das in Spielformen mit vielen Kontakten auf engstem Raum, in eng abgesteckten Feldern trainiert - nicht immer zur Zufriedenheit des neuen Trainers. "Wir brauchen Zeit und Beharrlichkeit, das wird uns die ganze Hinrunde begleiten", sagte Tuchel.
Sein Kader ist nahezu derselbe wie in der Vorsaison, zweifelsohne mit Weltklasse-Spielern gespickt, die zuletzt aber mental ihre Probleme hatten. "Wir dürfen nicht vergessen, wie strapaziös die vergangene Saison war - für den gesamten Klub und auch die Spieler", ließ Tuchel früh wissen. Die abwanderungswilligen Mats Hummels und Ilkay Gündogan konnte er in persönlichen Gesprächen begeistern. Neben den beiden dürfte nur noch Marco Reus in der Offensive seinen Stammplatz sicher haben, besonders ausgeprägt ist der Konkurrenzkampf im Mittelfeld. Dort konnte sich Julian Weigl, Neuzugang von Zweitligist 1860 München, in den Fokus spielen. Der 19-Jährige gilt als Gewinner der Vorbereitung. Dagegen dürfte es Publikumsliebling Kevin Großkreutz schwer haben, er wurde für die Europa League nicht nominiert.
Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Auch im Tor zittert ein alter Klopp-Veteran um seinen Stammplatz: Noch wollte sich Tuchel nicht festlegen, doch der aus Freiburg gekommene Schweizer Roman Bürki wird wohl wegen seiner fußballerischen Fähigkeiten Weltmeister Roman Weidenfeller als Nummer eins ablösen. So nimmt Tuchels neuer BVB langsam Konturen an. Tuchel muss einen schwierigen Spagat meistern, zwischen bewegter Vergangenheit und akuter Gegenwart. Dabei werden die Vergleiche mit Vorgänger Klopp so schnell nicht aufhören. Mit einem gelungenen Einstand in der Europa-League-Qualifikation und guten Ergebnissen in der Bundesliga könnte er zumindest dafür sorgen, dass sie langsam abklingen.