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Tugendwächter in der Defensive

Kersten Knipp16. Oktober 2012

Die Rechte der saudischen Glaubenspolizei sind ein weiteres Mal eingeschränkt worden. Mit vorsichtigen religiösen Liberalisierungsmaßnahmen sucht das Königreich den Kompromiss zwischen Tradition und Moderne.

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Zwei saudische Frauen nehmen ein Taxi in Riad, 24.5. 2011 May 24, 2011. (Foto: ddp)
Bild: AP

Zum Wesen des Menschen gehört es, frei zu sein. Er kann sich für dieses und gegen jenes entscheiden, das eine tun und das andere lassen. Er kann das Anstößige mögen und das Tugendhafte vergessen. Damit allzu laxes Verhalten unterbleibt, gibt der Koran nach Lesart der in Saudi-Arabien herrschenden wahhabitischen Religionsgelehrten eine klare Verhaltensregel an die Hand: "al-amr bi-l-ma´ruf wa n-nahy ´an il-munkar", wie es in der neunten Sure heißt: Das Züchtige sei zu gebieten und das Verwerfliche zu verhindern. Um diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, entstand die Tugendpolizei, die auf das rechte Gebaren der Bürger achtete. Und weil die Tugend nicht zuletzt in Handel und Geschäften stark gefährdet ist, kleine Tricksereien und Betrügereien hier besonders üblich sind, konzentrierte sie sich zunächst auf die Märkte und deren Umfeld – und das nicht nur in Saudi-Arabien, sondern auch anderen islamischen Ländern.

Pilger umkreisen die Kabaa in Mekka, 5.6. 2008. (Foto: dpa)
Zentrum der Offenbarung: die Kaaba in MekkaBild: picture-alliance/dpa

Mit Stockschlägen für das Gute

In Saudi-Arabien allerdings mochte sich der Religionsgelehrte Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703 – 1792) mit allein ökonomischer Tugendhaftigkeit nicht zufrieden geben. Der Begründer des im Königreich zur Staatsreligion erhobenen Wahhabismus, einer besonders strengen Lehre des Islams, legte Wert darauf, seine Mitbürger auch in anderen Lebensbereichen auf den rechten Weg zu führen. So erhoben bereits im 18. Jahrhundert Gruppen von Glaubenswächtern den Stock gegen all jene, die vom Pfad der Tugend abkamen. Ab 1918 entwickelten sich diese Gruppen zu einer eigenständigen staatlichen Institution, der Religionspolizei. Ihre Macht wuchs in den folgenden Jahrzehnten immer stärker an. Allerdings war sie immer auch abhängig von der jeweiligen politischen Lage: Hatten konservative Kräfte das Sagen, traten auch die Sittenwächter strenger auf; waren liberale Geister an der Macht, zeigte auch die Polizei sich milder.

Heute umfasst die Religionspolizei rund 4500 Angestellte. Sie werden von einer unbekannten Reihe Freiwilliger unterstützt. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen die Frauen. Sie müssen strikte Kleidungsvorschriften befolgen. Die Polizisten überwachen auch das Verhältnis der Geschlechter, das sich den strengen wahhabitischen Vorstellungen von Sittsamkeit zu fügen hat.

Zwei saudische Frauen in einer Shopping-Mall, 13.1. 2008 (Foto: dpa)
Hauptsache dezent: Zwei saudische Frauen in einer Shopping-MallBild: picture alliance/dpa

Glaubenswächter unter Druck

Seit rund zehn Jahren hat sich der saudische Staat aber entschlossen, die Befugnisse der Polizei einzuschränken. Nachdem er sie zuletzt wiederholt eingeschränkt hatte, will er sie jetzt noch weiter reduzieren. Konnten die Glaubenspolizisten saudische Bürger bislang verhaften und verhören, sollen sie dieses Vorrecht nun an die zivile Polizei übergeben. Auch Untersuchungen dürfen sie fortan nicht mehr nach eigenem Entschluss durchführen. Stattdessen müssen sie diese vorher bei übergeordneten Behörden beantragen.

Die schwindende Macht der Religionspolizei sei Ausdruck der ideologischen Spannungen, die Saudi-Arabien derzeit durchlebe, erklärt der am Münsteraner "Exzellenzcluster Religion und Politik" forschende Islamwissenschaftler Menno Preuschaft im Gespräch mit der DW. "Es herrscht eine gewisse Diskrepanz zwischen Tradition und Moderne. Einerseits hat man den Anspruch, einen reinen, der wahhabitischen Lehre entsprechenden Islam zu vertreten. Andererseits gibt es angesichts des Ölreichtums auch Versuche, das Land zu modernisieren und an die globale Moderne anzuschließen."

"Im Land herrscht ein starker Interessenskonflikt"

Diese Spannungen, und insbesondere die Diskussionen um die Rolle der Religionspolizei reichen bereits einige Zeit zurück, erklärt Preuschaft. "Es begann nach dem Golfkrieg 1990/91 als Diskussion über politische Reformen. Seit dieser Zeit fordern die Bürger immer stärker Partizipationsrechte ein." Auf die gehe das Königshaus auch ein – wenn auch sehr zögerlich. So habe es etwa einen Schura-Rat eingeführt, eine in Ansätzen einem europäischen Parlament vergleichbare Institution. Dieser habe allerdings keine gesetzgebende, sondern nur eine beratende Funktion. Die Entwicklung sei zwar zögerlich. Doch schneller sei der Wechsel nicht möglich. "Das Königshaus muss immer wieder Rücksicht auf die einflussreichen konservativen Kräfte im Lande nehmen. Das zeigt auch, was für ein starker Interessenskonflikt in dem Land herrscht."

Unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings habe sich die Diskussion noch einmal zugespitzt, erklärt Preuschaft. Denn auch Saudi-Arabien habe mit jenen Problemen zu kämpfen, die die Bürger mancher Staaten der Region auf die Straße getrieben hätten. "Vor allem spielt die demographische Situation eine Rolle. Viele - gerade junge - Menschen finden nur mit Schwierigkeiten einen Platz in der Gesellschaft." Das gelte vor allem für das Arbeitsleben. "Da sieht sich Saudi-Arabien großen Herausforderungen gegenüber. Derart wuchtige Ausbrüche wie die in Ägypten oder Tunesien sind in Saudi-Arabien aufgrund des Ölreichtums vielleicht weniger leicht möglich. Doch den Druck der Straße spürt die Regierung deutlich."