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Tunesien in guter Verfassung?

Bettina Marx4. April 2014

Am 27. Januar wurde die neue tunesische Verfassung verabschiedet. Sie soll den Weg ebnen für die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Doch reicht sie aus, um Tunesien in eine bessere Zukunft zu führen?

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Tunesische Parlamentsabgeordnete schwenken nach der Verabcsheidung der neuen Verfassung die Landesfahne. Foto: REUTERS
Bild: Reuters

Lobna Jeribi und Selim Kharrat sind sich einig: Der Weg zu einer tunesischen Verfassung war lang, schwierig und schmerzhaft. Doch mit dem Ergebnis sind die beiden Aktivisten aus Tunis zufrieden. Die 149 Artikel der im Januar verabschiedeten neuen Verfassung seien modern und umfassend. Sie stellten eine gute Grundlage für den Aufbau eines demokratischen tunesischen Staates dar, erklärten sie bei einer Diskussionsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

Stolz auf die Verfassung

Die 43-jährige Ingenieurin und Unternehmerin Jeribi ist Mitglied im Vorstand der sozialdemokratischen Ettakatol-Partei. An der Ausarbeitung der Verfassung hat sie als Mitglied der Grundwerte- und Präambel-Kommission aktiv mitgewirkt. Sie ist stolz auf das Erreichte, vor allem auf die in der neuen Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung der Frau. Zum ersten Mal werde den Frauen in Tunesien damit auf allen Ebenen Chancengleichheit garantiert. Auch die angestrebte politische Regionalisierung des Landes, die zu einer Stärkung der ländlichen Gebiete führen werde, und die Verankerung der sozialen Rechte in der Verfassung seien von großer Bedeutung.

Podiumsdiskussion in der Friedrich-Ebert-Stiftung: Isabelle Werenfels, Jobna Jeribi, Elisabeth Braune, Selim Kharrat (von links nach rechts). Foto: FES
Diskussion über die Zukunft Tunesiens: Werenfels, Jeribi, Moderatorin Elisabeth Braune, Kharrat (v.l.n.r.)Bild: FES

Der Bürgerrechtsaktivist Selim Kharrat weist vor allem auf das Verfassungskapitel über die Rechte und Freiheiten hin. Es regele sehr detailliert zahlreiche Einzelfragen wie das Recht auf Trinkwasser oder die Würde von Häftlingen. Dabei berücksichtige dieser Abschnitt die Erfahrungen vieler tunesischer Politiker und Aktivisten, die für ihre Überzeugung ins Gefängnis oder ins Exil gehen mussten. Dies soll zukünftigen Generationen erspart bleiben. Die neue Verfassung garantiert ihnen, dass sie weder ihre Staatsbürgerschaft verlieren noch aus dem Land vertrieben werden dürfen.

Perspektivlose Jugend

Der 32-jährige Kharrat weiß, wovon er spricht. Er selbst lebte neun Jahre in Frankreich und kehrte erst im Zuge der Revolution in seine Heimat zurück. Dort gründete er die Nichtregierungsorganisation Al-Bawsala (Der Kompass), die sich der parlamentarischen Kontrolle verschrieben und auch die verfassungsgebende Versammlung genau beobachtet hat. Außerdem engagiert er sich für die Belange der Jugendlichen in seiner Heimat. Sie stellten fast die Hälfte der Bevölkerung, würden jedoch bei weitem nicht angemessen repräsentiert, kritisiert er. Die Enttäuschung unter den Jugendlichen sei sehr groß: "Wenn man einen jungen Menschen auf der Straße anspricht und nach seiner Meinung fragt, wird er sehr spontan antworten, dass er nicht zufrieden ist mit der Politik." Viele Jugendliche sähen für sich keine Perspektive und träumten noch immer von Europa. "Ich sehe das als große Gefahr für diese junge Demokratie an, denn wer soll das Tunesien von morgen aufbauen, wenn nicht die Jungen?"

Selim Kharrat von der tunesischen NGO Al Bawsala Foto: Mersch
Selim Kharrat arbeitet als ParlamentsbeobachterBild: Sarah Mersch

Isabelle Werenfels, Maghreb-Spezialistin der Stiftung Wissenschaft und Politik, zieht ein positives Fazit des Verfassungsprozesses in Tunesien: "Das Ganze spricht für eine unglaublich reife politische Kultur und Gesellschaft", lobt sie. Gleichwohl blickt sie mit Sorge in die Zukunft, denn Tunesien leide nicht nur unter einer extrem schlechten Wirtschaftslage, auch die Sicherheitslage sei nicht stabil. "Wir haben ja nicht nur Libyen, das zerfällt. Wir haben auch Algerien, das einen kompletten Reformstau hat", so Werenfels. "Wenn sich da in den nächsten paar Jahren nichts tut, dann fürchte ich, dass wir dort eine erneute Destabilisierung erleben. Es ist fraglich, ob das kleine Tunesien mit zwei benachbarten 'failing states' eine Perspektive hat."

Wie geht es weiter?

Auch Lobna Jeribi und Selim Kharrat sind besorgt über die Zukunft ihres Landes. "Wir haben seit der Revolution viel Zeit verloren", stellt Jeribi fest. "Wir haben die Verfassung abgeschlossen und gebührend gefeiert, jetzt wollen die Menschen Brot und strukturelle Lösungen." Die ideologischen Debatten müssten der Vergangenheit angehören. Stattdessen sollte es nun um konkrete Verbesserungen der Lebensbedingungen in Tunesien gehen. Schließlich seien die Menschen im Jahr 2011 für Freiheit und soziale Gerechtigkeit auf die Straße gegangen. Ihre Partei setze sich daher für die Anhebung der Löhne und die steuerliche Freistellung des Mindestlohnes ein. "Die Zeit ist kurz", so Jeribi. Die Menschen müssten rasch spüren, dass sich ihre wirtschaftliche Lage verbessere.

Selim Kharrat sieht die ideologische Debatte noch nicht als beendet an. Er befürchtet, dass die nächsten Wahlen eine Stärkung der beiden führenden Lager bringen werden: der islamistischen Ennahda-Partei auf der einen Seite und der säkularen Bewegung Nida Tunis unter der Führung des 87-jährigen Beji Cai del Sebi auf der anderen Seite. Er wäre nicht überrascht, wenn diese beide Parteien sich trotz ihrer ideologischen Differenzen nach der nächsten Wahl zu einer großen Koalition zusammenschließen würden, denn wirtschaftspolitisch stünden sie sich in ihrer konservativ-liberalen Ausrichtung sehr nahe. "Das wäre zum Lachen, denn ich weiß nicht, wie die beiden miteinander das Land führen wollen."

Der Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Mustapha Ben Jaafar unterschreibt die Verfassung Foto: DW
Der Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Mustapha Ben Jaafar unterschreibt die VerfassungBild: DW/Taieb Kadri

Auch Nordafrika-Expertin Werenfels warnt vor Euphorie mit Blick auf Tunesien. "Wir tun ja so, als wäre die Demokratie bereits konsolidiert", kritisiert sie. Eine Demokratie könne jedoch erst als konsolidiert gelten, wenn es mehrfach unblutige, durch Wahlen hervorgerufene Machtwechsel gegeben habe. Aus Erfahrungen mit anderen Transformationsstaaten wisse man, dass es viele schwere Rückschläge geben könne, bis dieses Ziel erreicht sei.