Neuwahl soll Tunesien aus der Krise helfen
30. Juli 2013Tunesien versinkt immer tiefer in der politischen Krise. Nach dem Mord an dem linksgerichteten Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi am 25. Juli 2013 waren Anhänger und Gegner der islamistisch dominierten Regierung erneut aufeinander losgegangen. Der Graben zwischen dem religiösen und dem nicht-religiösen Lager scheint unüberwindbar. Der Tod von acht Soldaten bei Gefechten mit bewaffneten Extremisten heizt die aufgebrachte Stimmung zusätzlich an. Ministerpräsident Ali Larayedh kündigte vorgezogene Neuwahlen für den 17. Dezember an. Eine neu legitimierte Regierung soll den Weg aus der Dauermisere im Ursprungsland des Arabischen Frühlings weisen. Doch viele Tunesier wollen nicht so lange warten.
Wie nach dem Mord an dem prominenten Regierungskritiker Chokri Belaid Anfang Februar gingen auch nach den Schüssen auf Brahmi Zehntausende auf die Straße. Der Trauerzug geriet zur Demonstration gegen die Regierung Larayedh. Beide Morde wurden Ermittlern zufolge mit derselben Waffe begangen. Während die Regierung radikale Salafisten für die Schüsse verantwortlich macht, vermutet die Familie Brahmis die Täter im Umfeld der regierenden Ennahda-Partei.
Die Stimmung im Land ist nach Einschätzung von Yacine Khadraoui von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Tunis noch angespannter als Anfang 2013. Allerdings mache sich diese Zuspitzung noch nicht in der Größe der Demonstrationen bemerkbar. "Bei Chokri Belaid hat man mehr gesehen, weil kein Ramadan war", sagt Khadraoui im DW-Gespräch. Viele Menschen würden im islamischen Fastenmonat erst abends auf die Straße gehen, wenn das tägliche Fasten beendet ist.
Straßenschlachten in Tunesien
In der Nacht zum Mittwoch (31.07.2013) waren erneut jeweils Tausende Gegner und Anhänger der Regierung durch Tunis gezogen. Die Armee versuchte mit Absperrungen, erneute Zusammenstöße zu verhindern. In Sidi Bouzid, der Heimatstadt von Brahmi, hatte die Polizei in den vergangenen Tagen Tränengas gegen Steinewerfer eingesetzt.
Doch ungeachtet der Eskalation sei die Lage nicht mit der Situation in Ägypten zu vergleichen, betont der tunesische Politologe Larbi Chouikha. Er befürchtet keine Entwicklung wie am Nil, stellt aber klar: "Die Unzufriedenheit der Leute auf der Straße und die Zweiteilung der Gesellschaft findet man auch in Tunesien." In Ägypten hatte das Militär am 3. Juli den gewählten Präsidenten Mohammed Mursi abgesetzt und war mit massiver Gewalt gegen die ägyptischen Muslimbrüder vorgegangen. Die tunesische Armee spiele dagegen eine untergeordnete Rolle.
Unabhängige Expertenregierung gefordert
Mit einem Termin für Neuwahlen noch in diesem Jahr will Regierungschef Larayedh die Lage beruhigen. Einen sofortigen Rücktritt, wie von vielen Seiten gefordert, lehnte der Premier ab. "Wir klammern uns nicht an die Macht, aber wir haben eine Aufgabe und eine Verantwortung, der wir uns bis zum Schluss stellen", beteuert Larayedh. Das sieht die Ettakatol-Partei als einer von drei Koalitionspartnern anders. Die sozialdemokratische Partei fordert die Übergabe der Macht an eine Regierung der nationalen Einheit. "Wenn Ennahda den Vorschlag ablehnt, werden wir uns aus der Regierung zurückziehen", droht das führende Ettakatol-Mitglied Lobni Jribi. Der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT fordert ebenfalls, die umstrittene Koalition durch eine unabhängige Expertenregierung zu ersetzen.
Auch Politikwissenschaftler Chouikha will eine Ablösung der zerstrittenen Regierung, in der die islamistische Ennahda den Ton angibt. "Niemand kann beanspruchen, allein die Schlüssel zur Wahrheit zu haben", kritisiert er das Auftreten von Ennahda. Nötig sei vielmehr eine "Regierung des nationalen Heils". Dabei dürften persönliche oder politische Vorlieben keine Rolle spielen. Den Wahltermin noch im Dezember hält Chouikha für töricht. "Es sind sieben bis acht Monate Vorbereitung nötig", sagt er. Chouikha hatte 2011 die ersten Wahlen nach dem Sturz von Diktator Zine el-Abidine Ben Ali mit überwacht.
Stimmverluste für Ennahda erwartet
Unabhängig vom Wahltermin glaubt der Professor, dass Ennahda als der tunesische Arm der Muslimbruderschaft mit deutlichen Stimmverlusten rechnen muss. "Ich denke, dass die Popularität von Ennahda bröckelt." Gründe dafür seien die anhaltende Wirtschaftmisere und die soziale Krise. "Man kann gut über Religion und Identität reden, aber die Leute brauchen etwas zu essen", beschreibt er die Stimmung. Immer mehr junge Leute könnten trotz einer Berufsausbildung keine Arbeit finden.
Wie sich die Lage in dem nordafrikanischen Staat weiter entwickelt, wagen weder Khadraoui noch Chouikha vorherzusagen. Dafür gibt es zu viele unbekannte Faktoren. Anders als in Ägypten sei der Dialog mit den Muslimbrüdern aber noch nicht abgerissen, ist Khadraoui hoffnungsvoll. "Hier kann man noch verhandeln mit den Ennahda-Leuten", meint der Mitarbeiter der Naumann-Stiftung. Vielleicht helfe das, die Lage bis zu den nächsten Wahlen wenigstens etwas zu beruhigen.