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PolitikAfrika

Tunesien und die Pandemie: Ärzte warnen vor Kollaps

Kersten Knipp | Cathrin Schaer
5. Mai 2021

Das tunesische Gesundheitssystem gerät an seine Grenzen. Immer mehr an COVID-19 erkrankte Menschen drohen an den Krankenhäusern abgewiesen zu werden. Viele Tunesier werfen der Regierung große Versäumnisse vor.

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Tunesien Covid-19-Station in einem Krankenhaus in Tunis
Krankenhausbetten werden derzeit knapp in Tunesien Bild: Jdidi Wassim/SOPA Images/picture alliance

Ein Dutzend Personen in der Notaufnahme, teils sitzend, teils liegend. Einige eingehüllt in Decken, andere in ihrer Alltagskleidung. Eine Tür weiter werden Patienten behandelt, einige auch beatmet, all dies auf engstem Raum.

Ein der Deutschen Welle zugespieltes Video aus dem Krankenhaus einer größeren tunesischen Stadt gibt eine Ahnung von den dramatischen Umständen, unter denen die Mediziner des Landes um das Leben der Patienten kämpfen.

"Wie im Krieg"

"Die Situation ist wie im Krieg", sagt die Ärztin Omaima El Hassani im DW-Gespräch. "Tunesien kämpft heute mit der dritten Welle, und das mit sehr begrenzten Mitteln." Die Anzahl der Betten in ihrem Krankenhaus sei gering, die Aufnahmestationen für COVID-Patienten seien voll, beschreibt sie die Situation des Krankenhauses in Tunis, in dem sie Dienst tut. Sie und viele ihrer Kollegen warnen vor einem Kollaps des Gesundheitssystems, die Lage sei schon jetzt überaus schwierig: "Die Patienten warten oft über 24 Stunden auf ein freies Bett."

Impfungen laufen schleppend

Knapp 313.000 Menschen in Tunesien haben sich laut Angaben der Johns Hopkins University (JHU, Stand: 04.05.2021) mit dem Coronavirus infiziert, rund 11.000 Menschen sind an oder mit ihm gestorben. Damit weist Tunesien eine Todesrate von 3,5 Prozent aller Infizierter auf (Zum Vergleich: In Deutschland liegt sie bei 2,4 Prozent).

Tunesien Tunis Corona Covid-19 Impfung
Warten auf die Spritze: Impfzentrum in Tunis, Mai 2021Bild: Jdidi wassim/Zumapress/picture alliance

Auch beim Impfen kommt Tunesien nur schleppend voran. Bislang wurden der JHU zufolge etwas über 400.000 Dosen verimpft. Vollständig geimpft sind rund 95.000 Personen, etwa 0,81 Prozent der gesamten Bevölkerung. Bei den Impfungen ist die Regierung wie die vieler anderer finanziell schwacher Staaten der Region nahezu gänzlich auf das COVAX-Programm der Vereinten Nationen angewiesen. Darin ist Deutschland einer der größten Beitragszahler.

Tunesien | Coronavirus | Intensivstation in Tunis
Ärzte am Limit: Intensivstation in Tunis, Januar 2021 Bild: Fethi Belaid/AFP/Getty Images

"Wir laufen Gefahr, uns zu infizieren"

Auch für die Ärzte und Krankenpfleger ist die Situation schwierig. "Wir verrichten unsere Arbeit ohne angemessenen Schutz", sagt El Hassani. "Wir haben keine Schutzkleidung, es mangelt an Masken und Sterilisationsgeräten. Außerdem arbeiten wir 30 Stunden lang ohne Pause. Tag für Tag laufen wir Gefahr, uns zu infizieren. Damit gefährden wir auch unsere Familien." Nun sei auch noch der Sauerstoff knapp geworden. "Fast alle Notaufnahmen in der Hauptstadt haben keine Sauerstoffbetten mehr frei. Auf mehreren Stationen mussten wir Patienten mit Atemnot abweisen."

Aus diesem Grund haben sich die tunesischen Ärzte zu einem Streik entschlossen. Anfang dieser Woche legten sie für drei Tage die Arbeit nieder und hielten nur den unverzichtbaren Notdienst aufrecht.

Die Lage sei kritisch, sagt auch Henrik Meyer, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis. Durch die erste Welle sei das Land noch gut durchgekommen. "Die zweite und die dritte Welle schlugen dann aber zu. Es gibt derzeit in den öffentlichen Krankenhäusern kaum mehr Versorgungskapazitäten." Zwar gebe es noch Hilfe in den privaten Kliniken des Landes. "Aber die können sich die wenigsten Tunesier leisten."

Infografik COVID-19-Impfungen Tunesien vergleich mit Nachbarländer DE

Kritik an der Regierung

In dieser Lage verschlechtert sich die Stimmung der Bevölkerung. Die Zeitschrift "Mondafrique" wirft Ministerpräsident Hichem Mechichi dieser Tage eine "Vogel-Strauß-Politik" vor. Er schließe Schulen und Universitäten, lasse aber Cafés und Restaurants offen. Sauer stößt ihr auch auf, dass er die Mobilität der Bevölkerung einschränke, sich zugleich aber anlässlich religiöser Feste inmitten von Menschenmengen ablichten lasse.

Zugleich fühlen sich viele Tunesier vom Staat allein gelassen. Sie beklagen ein allzu zögerliches Regierungshandeln und werfen den Staats- und Regierungsvertretern vor, sich nicht auf einen klaren Kurs bei der Pandemiebekämpfung einigen zu können. Staatspräsident Kais Saied werfen sie vor, sich wegen der Pandemie nicht ein Mal in angemessener Form an die Bevölkerung gewandt zu haben.

Generell handle die Regierung nicht konsequent, sagt auch Henrik Meyer. "Die Maßnahmen sind wenig zielgerichtet und werden zudem nicht konsequent durchgeführt." Allerdings habe das Land auch mit enormen Herausforderungen zu kämpfen. So lebten rund 20 Prozent der Tunesier vom Tourismus, der weitgehend brach liegt. Die Einschränkungen träfen die Bevölkerung hart. Derzeit ist für die Einreise nach Tunesien neben einem negativen PCR-Test auch eine fünftägige Quarantäne erforderlich. Unter diesen Umständen kommen kaum Touristen ins Land.

Pandemie und Ökonomie

Dabei habe Tunesien im vergangenen Frühjahr bei der Pandemiebekämpfung eigentlich einen guten Start hingelegt, sagt der Entwicklungsingenieur Abdelhamid Jouini. Die Regierung habe sich seinerzeit durchaus entschlossen gezeigt. "Doch das hat sich im Herbst 2020 geändert. Die schwierige ökonomische Situation hat den bis dahin so strikten Kurs kaum mehr erlaubt."

Die Ärztin Omaima El Hassani, die auch Mitglied im Verband "Junger tunesischer Ärzte" ist, hält der Regierung vor, nicht rechtzeitig für die nötige medizinische Infrastruktur gesorgt zu haben. "Sie hätte für entsprechende Behandlungsräume, Intensivbetten und medizinische Notfallausrüstung sorgen  müssen. Außerdem hätte sie auch mehr Ärzte einstellen müssen."

Tunesien Tunis Corona Covid-19 Impfung
Schwieriger Alltag: Szene aus der Altstadt von Tunis, Ende April 2021Bild: ZOUBEIR SOUISSI/REUTERS

Die Last der Schwachen

Allerdings verhielten sich auch Teile der Bevölkerung nicht immer angemessen, meint Tunesien-Experte Meyer. "Viele Menschen sind pandemiemüde. Derzeit ist Ramadan, und wenn die Menschen sich abends treffen, tragen sie oft keine Masken. Das sieht man vielfach auch in Behörden: Angestellte, die sich nicht schützen."

Abdelhamid Jouini  weist darauf hin, dass ein hoher Teil der tunesischen Bevölkerung im informellen Sektor arbeite. "Die Pandemie-Maßnahmen haben diese Personen als erste getroffen. Darum haben sie aus ihrer Sicht nur geringen Anlass, den Kurs der Regierung zu unterstützen. Den Betroffenen ist klar, dass sie viel höhere Opfer bringen müssen als der wohlhabendere Teil der Bevölkerung."

Tunesien | Coronavirus | Ramadan
Nächtliche Ramadan-Szene in Tunis: Abstand einhalten nicht überall möglichBild: Yassine Gaidi/AA/picture alliance

Europäische Solidarität

Europa und insbesondere Deutschland unterstützten Tunesien sehr engagiert, meint Stiftungs-Vertreter Henrik Meyer. Er verweist auf die bereits im Revolutionsjahr 2011 begonnene enge Zusammenarbeit zwischen Tunesien und Deutschland. "Das zahlt sich jetzt aus. So wurden durch das Auswärtige Amt in Zusammenarbeit mit den politischen Stiftungen und Organisationen wie etwa der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) Programme umgewidmet, so dass zum Beispiel Schutzkleidung und Testausrüstung geschickt werden konnten."

Gefordert sei in erster Linie aber Tunesien selbst, inmitten seiner umfassenden Krise, umreißt Omaima El Hassani die Forderungen der tunesischen Ärzte. Der erste Schritt zur Überwindung der Pandemie bestehe darin, einzuräumen, dass die Strategie des Gesundheitsministeriums fehlerhaft sei. Dann gelte es, alle Parteien einzubeziehen: die Ministerien und die Regierung, die Universitäten, die Organisation junger tunesischer Ärzte. Zudem müsse das Budget des Gesundheitsministeriums erhöht werden. Ohne mehr Geld werde es nicht gehen können, betont die Ärztin. "Nur so lässt sich diese Krise überwinden."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika