Donald Tusk gibt umstrittenes Zeitungs-Interview
3. Dezember 2015Die Aufgaben des Präsidenten des Europäischen Rates werden in Artikel 15 des Lissabon-Vertrages beschrieben: Er soll die Ratstreffen leiten und deren Arbeit vorantreiben. Er bereitet die Gipfel vor und sorgt für die Kontinuität der Arbeit. Und er soll den Zusammenhalt und den Konsens im Rat der Regierungen fördern. Aber sollte er mit Interviews dieser Art in einen politischen Streit eingreifen?
Schockierendes Interview
"Es ist nicht seine Aufgabe", sagt Kris Pollet vom Internationalen Flüchtlingsrat in Brüssel. Und es sei auch ziemlich schockierend zu sehen, wie schlecht informiert Tusk sei. Denn die Zahlen zeigten, dass entgegen seinen Behauptungen die Mehrheit der Flüchtlinge tatsächlich aus Syrien, Irak, Afghanistan und anderen Ländern komme, wo es Krieg oder anhaltende schwere Krisen gebe. Das bestätige sich auch durch die Statistiken der EU-Grenzagentur Frontex.
Noch schockierender findet Pollet, dass der Ratspräsident europäisches Recht nicht kenne. Die Möglichkeit, Flüchtlinge bis zu 18 Monaten festzuhalten, die Tusk im Interview zur Regel machen möchte, finde sich nur in der EU-Direktive über die Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Selbst dort aber sei das nur im Ausnahmefall und nach einer Einzelfallüberprüfung erlaubt. "Diese Regelung hat nichts mit Flüchtlingen zu tun, die an den Grenzen ankommen. Tusk erfindet hier etwas, das ist ein Beispiel für echte Miss-Information und nach europäischem Recht nicht erlaubt".
"Ich verstehe nicht, warum der Ratspräsident solche Dinge sagt, es ist das allerschlechteste Vorzeichen für eine Einigung in der EU, jetzt in der Flüchtlingsfrage Angstmache zu betreiben", sagt der NGO-Vertreter. Der Flüchtlingsrat sei insgesamt sehr beunruhigt, welche Wendung die Diskussion in der EU genommen habe. Tusk unterminiere mit seinen Äußerungen den Versuch, eine solidarische Lösung in der Flüchtlingskrise zu finden. "Wir können nicht wegschauen", sagt Kris Pollet, "wir müssen eine gemeinsame Antwort finden, und die kann nicht in Stacheldraht-umzäunten Lagern an den EU-Außengrenzen liegen".
Tusk soll seinen Job machen
"Der Ratspräsident soll seinen Job machen und sich um die Sachen kümmern, für die er zuständig ist", schimpft der christdemokratische Europa-Abgeordnete Herbert Reul. Donald Tusk solle Mittler zwischen den Mitgliedsstaaten sein. Kluge Ratschläge dürfe er schon geben, sich aber nicht in dieser Form parteiisch zeigen, meint der CDU-Mann, der die Medieninitiative des Polen "verwirrend, und zwar negativ verwirrend" nennt.
Bisher habe er von Tusk noch keine großen Taten gesehen, kritisiert der Abgeordnete weiter, es sei ihm unerklärlich, warum der frühere polnische Regierungschef jetzt so aus der Deckung komme: "Es erleichtert jedenfalls nicht die Konsensbildung in Europa". Auch müsse Tusk sich fragen lassen, wie viel er denn von der Sache verstehe, wenn er die uneingeschränkte Anwendung der Dublin-Regeln verlange. Sowohl der EuGH als auch das Bundesverfassungsgericht hätten schon geurteilt, dass Flüchtlinge unter den gegebenen Umständen nicht nach Griechenland zurück gebracht werden dürften.
Reul hält die Lage in der EU derzeit für kritisch:"Sie müssen sich zusammenraufen. Es geht aber nicht, wenn einige sich einfach verweigern. Dann muss man darüber nachdenken, die Verteilung der Annehmlichkeiten einzustellen". Der CDU-Politiker meint, es sei höchste Zeit, beim anstehenden Gipfel dazu klare Worte zu sprechen, sonst brauche man Alternativen, wie etwa die Idee von Kerneuropa. Jedenfalls ist der Abgeordnete Reul selbst ein Anhänger klarer Worte und nennt das Ganze einfach "sau-ärgerlich".
Kontraproduktiver Vorstoß
"Donald Tusk hat sich immer mehr auf den Sicherheitsaspekt der Flüchtlingskrise konzentriert", sagt Janis Emmanouilidis vom European Policy Center in Brüssel. Dass er aber ausgerechnet jetzt diesen Vorstoß macht, scheint nicht wirklich sinnvoll. Man müsse in der EU zu einem Kompromiss in dieser Frage finden, was schwierig genug sei, da wäre es für den Ratspräsidenten besser, er würde mit einem ausgewogenen Ansatz in die Verhandlungen gehen.
Auch Emmanouilidis wundert sich, dass Tusk gerade in der angespannten Lage unter den Mitgliedsländern diesen Vorstoß macht: "Warum er diese starke Betonung auf den Sicherheitsaspekt legt, was nicht zur Konsensfindung beiträgt, ist politisch überraschend". Tusk betone nur die Notwendigkeit, die Außengrenzen zu schützen, und lasse den Aspekt der humanitären Krise und die Notwendigkeit, den Flüchtlingen zu helfen, dabei außen vor. Das Thema jetzt von einem so unausgewogenen Standpunkt anzugehen, mache seinen Job nicht leichter, meint der Politikexperte.