Obdachlose twittern in Paris
15. April 2014Patrick ist 47 Jahre alt. Wie die meisten Franzosen besitzt er ein Smartphone und einen #link:https://twitter.com/kanter57640:Twitter-Account#. Doch etwas an ihm überrascht dann doch: Seit mehr als drei Jahren lebt Patrick auf der Straße. Laut einer Studie des Nationalen Instituts für Statistik aus dem Jahr 2013 ist er einer von mehr als 140.000 Obdachlosen in Frankreich. Die Zahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. "Die Situation ist kompliziert", sagt Patrick, "das drängt einen an den Rand der Gesellschaft." Patrick arbeitete einst als LKW-Fahrer. Doch er verlor seinen Führerschein. Seitdem lebt er auf der Straße.
Da er auch seine Freunde, seine Familie und sein Haus verlor, spricht er nicht gerne über sein altes Leben. Doch in den vergangenen sechs Monaten war Patrick Mitglied der Initiative Tweets de Rue (Straßen-Tweets). Dadurch lernte er langsam wieder, über sein Leben zu sprechen - und sich der Gesellschaft zu öffnen. Im vergangenen November startete #link:http://tweets2rue.blogspot.fr/:Tweets de Rue# (@tweets2rue) mit Unterstützung des Roten Kreuzes. Die Idee ist simpel: Die Kampagne gab fünf Obdachlosen Smartphones und ermutigte sie dazu, auf Twitter über ihr Leben zu schreiben.
10.000 Follower
Emmanuel Letourneux ist eines der Gesichter hinter Tweets de Rue. Das Experiment wurde von einer New Yorker Initiative inspiriert, die nur 15 Tage dauerte, erklärt er den Hintergrund. Im Gegensatz zu seinem amerikanischen Pendant war die französische Initiative zunächst auf sechs Monate angelegt. Nun wurde sie verlängert. "Eines der Ziele, die wir mit Tweets de Rue haben, ist, dass Menschen direkt hören oder lesen, was Obdachlose zu sagen haben", sagt Letourneux. "Außerdem wollten wir zeigen, dass es viele gute Menschen gibt, die bereit sind zu helfen - Menschen, die sich in der Regel nicht in einer Non-Profit-Organisation engagieren würden."
Doch zunächst stand Tweets de Rue unter heftiger Kritik. Einige nannten das Projekt voyeuristisch. Auch die fünf teilnehmenden Obdachlosen waren sich nicht sicher, wie es funktionieren würde.
"Ich habe ungern zu viel Kontakt mit Menschen, deshalb war ich anfangs ein wenig skeptisch", sagt Patrick. "Aber das Projekt ermöglichte es mir zu sehen, was Menschen über Obdachlose denken, und mit Fremden zu reden. Ich neige dazu, mit Fremden besser klarzukommen als mit Menschen, die ich schon lange kenne." Sechs Monate später spricht Letourneux von einem vollen Erfolg der Initiative.
Mehr als 10.000 Follower haben Patrick und die vier anderen mittlerweile auf Twitter - möglicherweise auch dank organisierter monatlicher Live-Diskussionen auf der Social-Media-Plattform. Über das alltägliche Twittern hinaus reiste Patrick durch Frankreich und schrieb über seine Erfahrungen. "Ich habe drei meiner Follower getroffen. Noch vor einem Jahr hätte ich mir so etwas niemals vorstellen können. Das wärmt einem das Herz", sagt er. "Ich war ganz allein und brach alle Verbindungen zu Freunden und meiner Familie ab. Jetzt habe ich neue Freunde. Das sind aufrichtige Menschen, die keine Angst davor haben, ehrlich zu mir zu sein."
Nicht alles ist gut
Für andere war das Projekt nicht so erfolgreich. Manu, ein Einwanderer von der Elfenbeinküste, der ohne Papiere in Frankreich lebte, bekam zunächst einen großen psychischen Schub durch die Unterstützung, die er auf Twitter erhielt. Doch in der Großstadt Paris litt er unter Depressionen und reiste in den Süden Frankreichs. Von dort wurde er schließlich nach Italien abgeschoben. Inzwischen twitterte er, dass er derzeit versuche, nach Frankreich zurückzukommen.
Ein anderer Teilnehmer der Initiative, der erst 24 Jahre alt ist und seit fünf Monaten auf der Straße lebte, beendete das Projekt vorzeitig. "Es war klar, dass so etwas passieren würde", sagt Letourneux. "Deshalb hatten wir viel Kontakt mit den fünf Männern während des Experiments." Mitbegründer David Cadasse ist zuständig für Logistik und einer der Menschen, die regelmäßig einen direkten Kontakt mit den Obdachlosen haben. "Sie sind psychisch sehr empfindlich, deshalb musste ich ihnen beibringen, wie man twittert", sagt er. "Ich musste ganz in ihrer Nähe bleiben, denn für Obdachlose ist es ein weiter Weg bis zum nächsten Morgen. Auch beruhigen musste ich sie immer wieder - und ermahnen, vorsichtig mit der Presse zu sein. Wenn man obdachlos ist, ist man nicht daran gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen."
Eine neue Form der Solidarität
Ein wichtiges Ziel sei es gewesen, dass auch junge Menschen sich engagieren wollen, sagt Letourneux: "Ohne Twitter wäre das nicht möglich gewesen. Twitter verkörpert diese neue Sensibilität der Menschen, und es kann sehr hilfreich in Notfällen sein. Es ist ein Symbol, ein Symbol für eine neue Form der Organisation von Solidarität."
Manch einer ließ sich von Tweets de Rue sogar zu eigenen Projekten inspirieren. Eines dieser Projekte ist die Studentenvereinigung Sans A, die Obdachlose über ihr Leben interviewt und die daraus entstehenden Videos online stellt. Und warum auch nicht? Wenn es Twitter und anderen sozialen Medien gelingt, Menschen aus unterschiedlichen Ländern zu verbinden, warum sollte man es nicht dazu nutzen, Menschen, die direkt nebeneinander leben, zu verbinden?