Türken leiden unter verfehlter Geldpolitik
8. November 2021"Wenn ich den offiziellen Statistiken Glauben schenken kann, dann denke ich, dass sich die Inflation verdoppelt hat. Um ehrlich zu sein, geht es bei der Inflation nicht nur um Zahlen. Jedes Mal, wenn ich auf den Markt gehe, sehe ich, wie die Preise steigen. Wo ich früher zwei Sachen gekauft haben, kann ich mir jetzt nur noch eine leisten."
Elif Aydin ist 25, Studentin und lebt im Istanbuler Stadtteil Esenler, einem der einkommensschwachen Gegenden der Bosporus- Metropole. Ihre Schilderungen sind kein Einzelfall, wenn Menschen in der Türkei über ihre Lebenshaltungskosten sprechen.
Nicht nur Verbraucher, auch Produzenten kämpfen ständig mit der steigenden Inflation in der Türkei. Laut dem Türkischen Statistikinstitut (TÜIK) lag die Inflationsrate im Oktober auf Jahresbasis gerechnet bei 19,89 Prozent. Das ist ein Anstieg von sieben Punkten im Vergleich zum Oktober des vergangenen Jahres. Zum Vergleich: In Deutschland lag die Rate im Oktober bei 4,5 Prozent, was schon deutlich über dem EZB-Zielkorridor von um zwei Prozent ist.
Liegt die Rate höher?
Zugleich wird behauptet, dass die offiziellen Zahlen in der Türkei nicht die reale Inflation widerspiegeln. Nach den Berechnungen eines unabhängigen Expertengremiums, welche sich Inflationsforschungsgruppe nennt, lag die Preissteigerungsrate im Oktober bei knapp 50 Prozent. Entsprechend wird im November auch der Druck auf die Produktionskosten zunehmen, was sich dann unmittelbar wieder auf die Endverbraucherpreise niederschlagen wird.
Nach Ansicht von Wirtschaftsfachleuten wird sich die Inflation in den kommenden Tagen und Wochen noch stärker bei den Menschen bemerkbar machen. Die Ökonomin Özlem Derici Şengül sagt der DW, dass sich die monatlichen Steigerungen von über 20 Prozent insbesondere bei Nahrungsmitteln und im Energiebereich in den kommenden Monaten fortsetzen werden. "Es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen dem Verbraucherindex und dem Herstellerpreisindex. Die Hersteller haben diese Preiserhöhungen, die durch die hohe Inflation entstehen, noch nicht auf ihre Verkaufspreise aufgeschlagen. Der Erzeugersektor kann diesen hohen Belastungen, denen er ausgesetzt ist, maximal drei Monate standhalten", so Şengül weiter.
Gehaltserhöhungen schmelzen dahin
Der 30-jährige Digitaldesigner Aydin Savur gibt an, dass er die derzeitige Inflation von mindestens 45 Prozent massiv spüren würde. Seine Kaufkraft würde trotz regelmäßiger Gehaltserhöhungen rapide zurückgehen. "Ich kann das ruhigen Gewissens behaupten, wenn ich mir direkt meine eigenen Einkäufe ansehe. Gehaltserhöhungen nützen wenig, denn sie schmelzen dahin. Es ist ein regelrechter Einbruch. Meine Kaufkraft hat sich innerhalb eines Jahres nahezu halbiert", so Savur weiter.
Nach Auskunft des Türkischen Statistikamtes wurde der stärkste Anstieg der monatlichen Inflation durch Nahrungsmittel hervorgerufen. Vor allem bei Tomaten und Paprika wurden monatliche Preissteigerungen von bis zu 36 Prozent festgestellt.
Je höher die Preise für Grundnahrungsmittel steigen, desto geringer wird die Kaufkraft besonders derjenigen sein, die nur den Mindestlohn verdienen. Grund hierfür ist die massive Abhängigkeit der Türkischen Lira von der Entwicklung des US-Dollar und des Euro. Denn obwohl der Mindestlohn mittlerweile auf 2825 Lira angehoben wurde, sank er in den vergangenen sechs Jahren durch die Abwertung der Lira im Vergleich von 368 auf 283 Dollar.
"Wir können kein Fleisch mehr kaufen"
Bedingt durch den rasanten Anstieg der Nahrungsmittelpreise begannen sich auch die Konsumgewohnheiten der Bürger in der Türkei zu ändern. Für Menschen zählen nur noch die Grundbedürfnisse. Alles andere ist für viele überflüssiger Luxus.
Fleisch ist am stärksten vom Anstieg der Lebensmittelpreise betroffen - es gehört zu einem der Hauptnahrungsmittel der türkischen Küche. Laut der Daten, die dem sogenannten Rat für rotes Fleisch vorlagen, lag der Preis für so genannte Rinderschlachtkörper am 5. November 2020 bei 35 Lira. Ein Jahr später musste man 48 Lira bezahlen. An Fleischtheken wird Rindergehacktes zu Preisen ab 60 bis 65 Lira verkauft, was einer Preissteigerung von 20 Prozent entspricht. Andere Fleischprodukte wie Rinderfilet, Rindergulasch, Steaks u. ä. verteuerten sich um 60 Prozent.
Fabrikarbeiter Gürkan Kör aus Gebze sagt ebenfalls, dass sein Gehalt nicht mehr ausreiche, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten: "Das, was wir bisher mit unserem Geld kaufen konnten, können wir jetzt nicht mehr kaufen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr wird es immer schwieriger für uns. Fleisch können wir gar nicht mehr kaufen. Wenn es hoch kommt, können wir uns einmal im Monat Hühnerfleisch leisten", sagt Gürkan Kör. Oliven, die letztes Jahr 27 Lira kosteten, liegen jetzt bei 50 Lira. "Meine Familie möchte ich damit nicht belasten, doch es geschieht wohl oder übel", beklagt sich der 41-Jährige.
Kleinunternehmer: Mit jedem Preisanstieg verlieren wir Kunden
Doch nicht nur die Bürger sind die Leidtragenden, sondern auch Ladenbesitzer, Gewerbetreibende und Produzenten klagen über die hohen Lebenshaltungskosten. Denn die Schere zwischen dem Erzeugerpreisindex, der mit über 46 so hoch steht wie seit 19 Jahren nicht, und den Verbraucherpreisen wird immer größer. Im Umkehrschluss heißt das, dass die Hersteller zu höheren Preisen produzieren, aber zu niedrigeren Preisen verkaufen können.
Adem Kösen ist seit über 20 Jahren Metzger im Istanbuler Stadtteil Alibeyköy. Er beklagt sich, dass die Preise für Fleisch allein im vergangenen Jahr um 60 Prozent gestiegen seien. Kösen sagte jedoch, dass sie den gleichen Anstieg nicht einfach an ihre Kunden weitergeben könnten: "Wenn wir die Preise entsprechend anheben würden, kämen die Kunden nicht mehr. Wir sind gezwungen, unsere Gewinnmarge zu reduzieren. Die Dinge stagnieren bereits."
Der Vorsitzende des Verbandes der türkischen Kleinstunternehmer und Handwerker (TESK), Bendevi Palandöken, sagt der DW, dass die meisten Handwerker ihre Produkte jetzt zum Selbstkostenpreis verkaufen, ohne Gewinn zu erwirtschaften.
Soziale Erfahrung bestimmt reelle Zahlen
Nach Ansicht des Wirtschaftsfachmanns Arda Tunca schwächen die Erfahrungen, die die Menschen in ihrem Alltag machen, das Vertrauen in die offiziellen Institutionen. Tunca erklärt, dass die Preise, die die Bevölkerung auf dem Wochenmarkt sehen, nicht mit den Daten des Statistikamtes TÜIK übereinstimmen. Die Verbraucher hätten sich mit den hohen Preisen abgefunden und müssten sie zwangsläufig akzeptieren.
"Alles, was passiert, manifestiert sich auf der Straße. Die Türkei hat in der Geldpolitik falsche Entscheidungen getroffen. Auch über die Mittelschicht wird nicht mehr gesprochen. Die Einkommen der Menschen schrumpfen ständig. Die hohe Inflation hat eine neue Klasse geschaffen." Arda Tunca bezeichnet diese mittlerweile als so genannte "Inflationsklasse". Der Wirtschaftsfachmann weiter: "Unter normalen Bedingungen sollten Gruppen mit hohem Einkommen Arbeitsplätze schaffen und die Produktion unterstützen, aber sie verwenden ihre Investitionen nicht in diese Richtung. Sie ziehen es vor, Geld mit der Inflation zu verdienen. Das führt dazu, dass Menschen mit niedrigem Einkommen noch ärmer werden."
Die hohe Inflation und die massive Schwächung der Kaufkraft werden sich nach Einschätzung Tuncas in den näheren Zukunft in den politischen Entscheidungen niederschlagen. Die Türkei, so sagt er weiter, sei zwar in den letzten sieben bis acht Jahren gewachsen, aber das persönliche Einkommen sei zurückgegangen.
"Dieses Wachstum kommt der Öffentlichkeit auf lange Sicht nicht zugute. Wir haben uns von einer nachhaltigen Politik entfernt. Die Menschen sind mit einer hohen Schuldenlast konfrontiert und ihre Einkommen sinken weiter. Menschen aus allen Bereichen des Konsums werden dies immer deutlicher feststellen. Es wurden große Fehler gemacht."
Adaption: Erkan Arikan