Türkei setzt trotz Bedenken auf Atomkraft
29. Dezember 2014Zum sechsten Mal in vier Monaten besucht Devin Bahceci das Gelände in Akkuyu in der türkischen Provinz Mersin. Er steht vor der Absperrung und schüttelt den Kopf. "Bis heute wissen wir nicht, was auf uns zukommt. Das Projekt ist so intransparent. Es ist frustrierend", sagt der 31-jährige Energie- und Klimaaktivist von der Umweltorganisation Greenpeace. Die türkische Regierung plant hier den Bau ihres ersten Atomkraftwerkes (AKW) in Zusammenarbeit mit der russischen Firma Rosatom. Erst kürzlich wurde der umstrittene Umweltverträglichkeitsbericht vom türkischen Umweltministerium akzeptiert. Der Beginn der Bauarbeiten ist für Mitte 2015 geplant.
Für Bahceci ist diese Entscheidung unverständlich. "Wir als Greenpeace, aber auch viele andere Nichtregierungsorganisationen haben unsere Bedenken zu dem geplanten AKW in Akkuyu eingebracht. Doch das Ministerium akzeptierte den Bericht noch bevor er an die Öffentlichkeit kam. Wir wissen also nicht, ob unsere Einwände miteinbezogen wurden. Wahrscheinlich nicht", befürchtet der Umweltaktivist im DW-Gespräch.
Ungewisse Zukunft
Auch der künftige Umgang mit dem radioaktiven Abfall sei nicht bekannt, sagt er. "Laut dem Umweltverträglichkeitsbericht soll der Abfall nach Russland entsendet werden. Doch sind Einzelheiten nicht bekannt. Wird er über den Bosporus durch Istanbul geschifft oder nicht? Das ist ein ausschlaggebender Punkt für uns. Denn damit bestünde ein Gesundheitsrisiko für die rund 17 Millionen Einwohner in Istanbul", so der 31-Jährige.
Bahceci spricht bei seinem Besuch in Akkuyu oft mit betroffenen Anwohnern. "Die Menschen sind frustriert und fühlen sich im Stich gelassen. Sie werden nicht nach ihrer Meinung gefragt. Sie werden nicht in den Entscheidungsprozess integriert", erzählt Bahceci.
Seit rund 40 Jahren sei das Kernkraftwerk in Akkuyu bereits in Planung, daher gebe es in der Gegend keine investitionen in den Tourismus und ein Großteil der jungen Bevölkerung ziehe weg. "Die Menschen, die Obst und Gemüse in der Nähe anbauen und ins Ausland exportieren, machen sich Sorgen um ihre künftigen Geschäfte", erzählt Bahceci.
Vom Energieimporteur zum Exporteur
Bis zum Jahr 2023 will die türkische Regierung 30 Prozent des nationalen Strombedarfs aus lokalen erneuerbaren Energiequellen gewinnen. Und trotz nationaler und internationaler Kritik, hält Ankara an dem Vorhaben fest, das Land künftig hauptsächlich durch Nuklearenergie zu versorgen. Der ehrgeizige Plan lautet: drei Kernkraftwerke bis 2023.
Auf der Internetseite des türkischen Energieministeriums wird auch erklärt warum: Die Abhängigkeit der Energieressourcen aus dem Ausland liege bei 72 Prozent. Außerdem sei die Türkei weltweit die Nummer zwei, nach China, wenn es um die steigende Energienachfrage gehe. Der Stromverbrauch hat sich im vergangenen Jahrzehnt von 130 Milliarden Kilowattstunden auf 240 Milliarden Kilowattstunden fast verdoppelt. Die türkische Regierung spricht zudem von der "Verpflichtung", die Kernkraftwerke für die Energieversorgung des Landes miteinzubeziehen, um unabhängiger von der Energiezufuhr aus dem Ausland zu werden.
"Unser Leistungsbedarf wird sich auch im nächsten Jahrzehnt verdoppeln. Jetzt importieren wir noch 72 Prozent unseres Energiebedarfs, aber wir werden nicht einmal mehr ein Drittel unseres heutigen Erdgas-Imports benötigen, sobald unsere Kernkraftwerke einsatzbereit sind", so der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. "Unsere Erdgasrechnung wird damit um 7,2 Milliarden US-Dollar gekürzt. Damit bietet sich sogar die Möglichkeit an, Energie zu exportieren."
Nuklearenergie unnötig?
"Die Türkei braucht keine Kernkraftwerke. Wir haben genug Wind und Sonne in unserem Land, womit wir wunderbar Energie erzeugen können", findet Tanay Sidki Uyar, Leiter der Energieabteilung der Marmara-Universität in Istanbul und Präsident der Europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energie e.V. (Eurosolar).
Die Technologie für erneuerbare Energie sei außerdem günstiger denn je. "Doch die türkische Regierung nutzt ihr Potential nicht aus. Die Behörden vergeben nicht genügend Lizenzen, vor allem nicht für den Bau von Windanlagen. Sie konzentriert sich hauptsächlich auf Kohle, Atomenergie und Erdgas", so Uyar im DW-Gespräch.
Der Energieexperte verweist ebenfalls auf die Intransparenz des Umweltverträglichkeitsberichts. Niemand wisse was mit dem nuklearen Abfall passiere. Das sei das größte Problem, sagt Uyar.
In diesem Zusammenhang kritisiert der Experte auch die Europäische Union, die das Energiekapitel bei den Beitrittsgesprächen mit der Türkei blockiert. "Diese Tatsache hält die Türkei von einer vernünftigen Energiepolitik fern."