Türkische TV-Serien: Zwischen Geschäft und Propaganda
22. Januar 2025Rund 60 Frauen, Männer und Kinder stehen vor der breiten Marmortreppe des im Jugendstil errichteten Hotels Pera Palast in Istanbul und bestaunen den fast 130 Jahre alten elektrischen Käfigaufzug, der gerade Gäste herunterbefördert. Ein Hotelpage fragt, ob die Gruppe auf die Besichtigungstour wartet und erfährt, dass auch Besucher aus Spanien darunter sind. "Klar, seit der Ausstrahlung der Serie haben wir Besucher aus aller Welt", sagt er. Viele kämen, um den prächtigen Drehort zu sehen und in die Geschichte einzutauchen.
Die Serie, von der er redet, heißt "Mitternacht im Pera Palace" und basiert auf dem gleichnamigen Buch des US-Autors Charles King. Seit März 2022 ist die Serie weltweit beim Streamingdienst Netflix zu sehen.
Die Geschichte beginnt mit der Journalistin Esra, die einen Artikel über das 1895 eröffnete Hotel schreiben will, in dem auch international bekannte Persönlichkeiten wie Agatha Christie, Alfred Hitchcock, Greta Garbo und Ernest Hemingway nächtigten.
Vom Hotelmanager Ahmet erfährt die Heldin Esra ein Geheimnis: Durch einen alten Zimmerschlüssel des prächtigen Bauwerkes kann man durch die Zeit reisen. Esra reist ins Jahr 1919 und wird Zeugin einer internationalen Verschwörung: Ein englischer Kommandeur plant ein Attentat auf den Staatsgründer Atatürk, das um jeden Preis verhindert werden muss. Damit beginnt ein historisches Abenteuer im alten europäischen Teil Istanbuls.
In über 170 Länder verkauft
Türkische Serien haben seit Mitte der 2000er international Hochkonjunktur. Laut dem Verband türkischer Dienstleistungsexporteure werden sie jährlich in 170 Länder verkauft. Die Produktionen sollen 2023 mit Exporten rund 600 Millionen Dollar umgesetzt haben. Schätzungen zufolge wird 2024 die Milliarden-Dollar-Marke geknackt. Nach Angaben des türkischen Handelsministers Ömer Bolat schauen weltweit 800 Millionen Zuschauer zeitgleich türkische Serien.
Der Erfolgskurs begann mit den Dramen wie "Silber", "1001 Nacht", "Ezel", "Das prächtige Jahrhundert" und "Black Money Love". Die ersten Abnehmer waren Kasachstan und Aserbaidschan. Kurz darauf folgten arabischsprachige Länder, Lateinamerika, Balkanstaaten, Russland und Europa.
Die Analyse-Firma Parrot Analytics misst die globale Entwicklung der Unterhaltungsbranche. Ihr zufolge ist die Nachfrage nach türkischen Serien zwischen 2000 und 2023 um 184 Prozent gestiegen.
Liebesdramen und Gesellschaftskritik
Laut türkischer Medienaufsichtsbehörde RTÜK wird im Land täglich rund vier Stunden ferngesehen - am meisten die Serien in der Hauptsendezeit. Mehr als 70 Prozent aller Haushalte besitzen ein Abonnement der Streamingsdienste.
Dementsprechend ist die Auswahl groß: von Liebesgeschichten und Komödien bis hin zu historischen und gesellschaftlichen Dramen. Je freizügiger und kritischer die Serien sind, desto häufiger geraten sie ins Visier der türkischen Justiz.
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan macht keinen Hehl daraus, dass er die Serien nicht schätzt. Erdogan habe solche Produktionen sogar als Gefahr für die nationale Sicherheit bezeichnet und als islamophob kritisiert, erinnert der Politikwissenschaftler Hakki Tas vom Hamburger Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA). Danach seien wieder Strafen verhängt worden.
Vor einem Jahr berichtete die DW über die Sendesperre und Geldstrafe gegen die Serie "Rote Knospen", in der die tiefe Spaltung zwischen säkularen und religiösen Gruppen thematisiert wird. Nach einem erfolgreichen Start Ende 2023 liefen regierungsnahe Bruderschaften Sturm gegen sie, weil "Rote Knospen" angeblich religiöse Gefühle verletze. Der Sender wurde mit einem zweiwöchigen Sendeverbot und 275.000 Euro Geldstrafe belegt.
Neuerdings haben türkische Behörden auch Künstleragenturen im Blick. Gegen zwei Dutzend von ihnen wird wegen angeblicher Absprachen und Kartellverstöße ermittelt.
Mehr als ein Geschäft
Doch die türkische Regierung hat ein ambivalentes Verhältnis zu den Serien: Sie nutzt sie auch als Propagandaplattform, durch die die öffentliche Meinung beeinflusst und ihre ideologischen Vorstellungen verbreitet werden können.
Während private Produktionen immer öfter unter Druck geraten, investiert der Staat massiv in eigene Produktionen. Das staatliche Fernsehen TRT gibt jährlich zahlreiche Serien in Auftrag, die die Geschichte und "Werte der türkischen Nation" aus der islamisch-konservativen Perspektive vermitteln. Ein Beispiel hierfür ist "Die Auferstehung des Ertugrul": Die Serie erzählt das Leben des alttürkischen Stammesführers Ertugrul im 13. Jahrhundert.
Außerdem werden staatliche Produktionen dafür instrumentalisiert, Kritiker zu diffamieren oder in einem negativen Licht darzustellen. Ein prominentes Beispiel war die TRT-Produktion "Metamorphose", in der der seit acht Jahren in Haft sitzende Unternehmer und Menschenrechtsaktivist Osman Kavala als Staatsfeind dargestellt wurde.
Was beabsichtigt die Regierung
Dem Politikwissenschaftler Tas zufolge versucht die türkische Regierung, der Gesellschaft einen Lebensstil nach AKP-Vorstellung aufzuzwingen. Serien, die von dieser Norm abweichen, sollen durch Maßnahmen, Strafen und Druck zum Schweigen gebracht werden.Die Serien seien in den vergangenen Jahren zu einer Art Ventil für gesellschaftliche Kritik geworden. Botschaften würden in Charakteren und Handlungen versteckt. Seit dem Erfolg der Opposition bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr sei diese Tendenz noch deutlicher zu erkennen, stellt Tas fest.