Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten
1. August 2018Der Kandidat fand das nicht nachvollziehbar: Da fliehen Syrer vor dem Krieg, finden Schutz im Ausland - um während des Ramadan dann für zehn Tage zurück zu ihrer Familie zu fahren. "Wenn sie in ihre Heimat zurückreisen können, sollen sie doch gleich dort bleiben", forderte einer von Erdogans Herausforderern im türkischen Präsidentschaftswahlkampf, Muharrem Ince von der Republikanischen Volkspartei (CHP). "Ist unser Land eine Suppenküche? Mein Land ist voll von Arbeitslosen!"
Gegen Wahlsieger Erdogan hatte Ince keine Chance. Aber mit 30 Prozent der Wählerstimmen schaffte er es auf den zweiten Platz - nicht zuletzt dank seiner entschiedenen Kritik an Erdogans Flüchtlingspolitik. Knapp vier Millionen Menschen aus Syrien hat die Türkei derzeit aufgenommen; der Flüchtlingsdeal mit der EU spielt dabei eine große Rolle. Seit Februar 2016 ist es ihnen erlaubt, in der Türkei zu arbeiten. Das führte dazu, dass viele von ihnen einfache Arbeiten zu geringen Löhnen übernahmen, die bislang Einheimische ausgeübt hatten. Auch trieben die vielen Flüchtlinge die Mieten in die Höhe, vor allem im Osten des Landes. Andererseits haben syrische Flüchtlinge offiziellen Angaben zufolge bereits über 330 Millionen US-Dollar in die türkische Wirtschaft investiert - etwa um eigene Unternehmen zu gründen. 6000 davon gibt es bereits.
Dennoch konnten die Flüchtlinge die Türken bislang nicht für sich einnehmen. "Unsere Soldaten fallen in Syrien im Kampf gegen den Terror, während junge syrische Männer mit munterem Stolz unsere Straßen bevölkern", sagte CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu im Wahlkampf. Er konnte damit rechnen, dass Äußerungen wie diese von einem Teil der Bevölkerung gut aufgenommen werden, umso mehr, als die türkische Wirtschaft derzeit in vielerlei Hinsicht schwächelt.
Erdogan unter Druck
Entsprechend steht Präsident Erdogan auch nach den Wahlen unter Druck. Darum versuche er, mit Hilfe des Militärs Teile Nordsyriens unter die Kontrolle türkischer Truppen und bezahlter syrischer Milizen zu bekommen, sagt Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz. "Das wäre ein Gebiet, das sich aus Sicht Erdogans dazu eignet, die Rückkehr der Syrer aus der Türkei zu erleichtern."
Für Europa, für Deutschland bietet Erdogans Interesse Chancen und Schwierigkeiten zugleich. So ist Erdogan offenbar dankbar für jeden syrischen Flüchtling, der die Türkei wieder verlässt - und zwar ganz gleich, in welche Richtung. So hat sich die Zahl der aus der Türkei in Griechenland eintreffenden Flüchtlinge seit Beginn dieses Jahres bis Mai verneunfacht - mehr als 15.000 Menschen überquerten das Mittelmeer zwischen der Türkei und Griechenland.
Darum rief der EU-Kommissar für Migration und Inneres, Dimitris Avramopoulos, dazu auf, die Präsenz der rund 1500 Mann starken EU-Grenz- und Küstenwache auszubauen. Zugleich erklärte er, der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei funktioniere weiterhin. "Die Lage ist unter Kontrolle", so Avramopoulos im Mai dieses Jahres. Ende Juni einigten sich die EU-Staaten, der Türkei weitere drei Milliarden Euro zukommen zu lassen, um die syrischen Flüchtlinge zu versorgen. Ein erstes Hilfspaket mit drei Milliarden Euro war zuvor aufgebraucht worden.
"Türkei braucht Stabilität in Syrien"
Klar ist damit: Die Flüchtlinge in der Türkei zu halten, wird weiterhin nur durch den Transfer - zweckgebundener - Mittel möglich sein. Zugleich aber profitiert die EU, Deutschland vorneweg, von Erdogans Interesse, zur Befriedung des Nachbarlandes so viel wie möglich beizutragen. "Die Türkei ist auf Stabilität im Nachbarland dringend angewiesen", so Günter Meyer. Dieses Interesse hat auch Deutschland - ein wichtiger Anknüpfungspunkt, sollte der türkische Staatspräsident im Herbst Deutschland besuchen.
Das gemeinsame Interesse deutet sich auch mit Blick auf das Vierer-Gespräch an, zu dem die Türkei für Anfang September eingeladen hat. Dabei will die Türkei mit Russland, Frankreich und Deutschland über die Entwicklungen im Bürgerkriegsland Syrien beraten. Man werde sehen, was man gemeinsam unternehmen könne, sagte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor Journalisten seines Landes.
Zwar stehen Reaktionen aus den eingeladenen Ländern noch aus. Doch haben sie alle Interesse an einem Ende des Krieges in Syrien und, wenn möglich, einer Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat. "Nach seiner langjährigen Intervention in Syrien muss Russland dringend Erfolge vorweisen können", sagt Bente Scheller, Leiterin der Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, im Gespräch mit der DW. "Dieser Erfolg besteht für Russland darin, Stabilität zu schaffen - auch mit dem Ziel, dass die geflüchteten Syrer langfristig wieder in ihre Heimatgemeinden zurückkehren."
Entgegenkommen der Bundesregierung
Auch Deutschland signalisiert den Willen zu neuer Annäherung. So hat die Bundesregierung Teile ihrer Türkei-Sanktionen auslaufen lassen. Medienberichten zufolge wurde die 2017 beschlossene, als Druckmittel gegen die Regierung in Ankara gedachte Obergrenze für Exportgarantien für das laufende Jahr nicht verlängert - und zwar ungeachtet der Tatsache, dass sich die Menschenrechtssituation in der Türkei nicht verbessert hat und sich weiterhin 46 deutsche Staatsbürger in türkischen Gefängnissen befinden.
Auch hat das Auswärtige Amt die verschärften Reisehinweise für Touristen und Geschäftsleute nach dem Ende des Ausnahmezustands in der Türkei wieder abgemildert. Das kommt insbesondere der türkischen Tourismus-Industrie zugute. Sie hatte einen solche Abmilderung wiederholt gefordert.
"Nach dem Ende des Ausnahmezustandes in der Türkei gehen europäische Staaten auf die Regierung in Ankara zu", beobachtet der Türkei-Experte Günter Seufert von der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP). Nicht nur Deutschland, auch die Niederlande suchten die Beziehungen zur Türkei wieder auf bessere Grundlagen zu stellen. "Eine völlige Normalisierung der türkisch-europäischen Beziehungen ist jedoch nicht absehbar, weil viele politische Differenzen auch nach der Abschaffung des Ausnahmezustandes fortbestehen."