Türkei: Kein sicherer Drittstaat
2. November 2021Sabahattin Toprak sitzt vor seinem kleinen Restaurant direkt neben dem historischen Rundturm in Thessaloniki. Die Geschichte des Bauwerks ist so vielschichtig wie die der Stadt: Errichtet als Tempel in der Antike, diente die Rotunde später als christliche Kirche, im osmanischen Zeitalter als Moschee und ist jetzt wieder orthodoxes Gotteshaus. Aus der osmanischen Zeit ist das Minarett übriggeblieben, das von Topraks kleinem Ladenlokal aus gut sichtbar ist.
In der Türkei wurde Toprak mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht. Vor fünf Jahren floh er aus dem Land, zurück in die Heimat kann er nicht mehr: Seit dem Putschversuch 2016 macht das Regime von Präsident Recep Tayyip Erdogan gezielt Jagd auf politische Gegner: "Mein Schwager und mein Neffe sitzen im Gefängnis. Die Türkei ist nicht sicher", erzählt er der DW. Sobald man in irgendeiner Form vom Erdogan-Regime als Gegner wahrgenommen werde, gäbe es Konsequenzen: "Sie verhalten sich wie die Mafia."
In Thessaloniki fühlt sich Toprak wohl, auch wenn sich die politische Situation zwischen Ankara und Athen in den vergangenen anderthalb Jahren deutlich verschlechtert hat. Öffentliche Anfeindungen durch Griechinnen und Griechen gebe es nur sehr selten, sagt er - doch die Spannungen zwischen den Nachbarländern habe Unsicherheit erzeugt.
"Vielen meiner Freunde hier bereitet die Situation Angst", berichtet Toprak. "Sie wissen nicht, was passieren wird oder wie sie sich verhalten sollen. Man kann sich unter diesen Umständen nicht sicher fühlen, viele haben Griechenland deshalb wieder verlassen." Sorgen, dass es zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt, hätte man nicht. Vielmehr gebe es Gerüchte, dass Athen und Ankara ein Abkommen vereinbaren könnten - und Flüchtlinge, die im Verdacht stehen, zur Gülen-Bewegung zu gehören, dann ausgeliefert werden könnten.
Systematische Unterdrückung
Seit fünf Jahren lebt auch der türkische Journalist Ragip Duran in Thessaloniki. In seiner mehr als 40 Jahre dauernden Karriere hatte er vor allem für ausländische Medien gearbeitet. Große Namen wie AFP oder "Liberation" sorgten für einen gewissen Schutz gegen die Einflussnahme der Regierung. Doch 2016 änderte sich die Situation: "Ich bin kein politischer Flüchtling mehr", sagt Duran der DW, "sondern einfach ein Auslandsjournalist, der hier arbeitet."
Seit dem Putschversuch im Jahr 2016 sei es unmöglich, in der Türkei als Journalist zu arbeiten. "Sie haben den Journalismus aus dem Land verbannt", sagt Duran und lacht, so, als hätte er sich längst an die Absurdität der systematischen Unterdrückung in seiner Heimat gewöhnt: "Das Erdogan-Regime unterdrückt jegliche Opposition, Journalisten, Wissenschaftler, Gewerkschafter, generell Intellektuelle, die sich der Macht nicht fügen."
Nach seiner Ankunft in Thessaloniki habe er erfahren, dass er in der Türkei zu einer 18-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden sei, berichtet Duran. Das Urteil sei später wieder aufgehoben worden. "Derzeit gibt es ein ausstehendes Verfahren gegen mich, weil ich bei einer Soldidaritätsaktion für eine kurdische Zeitung mitgemacht habe. 56 Journalistinnen und Journalisten waren dort symbolisch für einen Tag Chefredakteur." Der Prozess sei rein politisch motiviert und habe mit Rechtstaatlichkeit nichts zu tun. Wie bei den meisten Gerichtsverfahren in der Türkei gehe es um Terrorismusvorwürfe, so Duran. "Mehr als 700.000 Menschen sind angeklagt worden, weil sie angeblich Terrorismuspropaganda betrieben haben."
Das System Erdogan bröckelt
Doch Erdogans Rückhalt lässt nach, auch in der eigenen Partei AKP. Die Türkei ist international isoliert. Zudem hat die Corona-Pandemie das Land in eine tiefe Krise gestürzt. Nicht nur Intellektuelle verlassen Erdogans Staat, die türkische Lira hangelt sich von einem Tiefpunkt zum nächsten. Gleichzeitig befinden sich Athen und Ankara in einem kalten Krieg um Rohstoffe in der Ost-Ägäis und in einer politischen Schlammschlacht, die vor allem auf dem Rücken von Flüchtenden, Migrantinnen und Migranten ausgetragen wird.
Trotzdem bleiben Brüssel und die EU bei ihrer Einschätzung, die Türkei sei für Flüchtlinge ein sicheres Drittland. Auch deswegen greift Athen zu immer härteren und häufig illegalen Taktiken, um Menschen an einem Asylgesuch auf griechischem Boden zu hindern. Beide Länder bezichtigen sich, Flüchtende als Propagandawaffe zu missbrauchen.
Derzeit befinden sich vier bis fünf Millionen Migrantinnen und Migranten in der Türkei, so viele wie in kaum einem anderen Land weltweit. Proportional zu den immer größer werdenden innenpolitischen Problemen wächst auch die Abneigung gegen sie: "Die Menschen in der Türkei sind gar nicht glücklich mit all den Migranten", bestätigt Ragip Duran. Dabei versuche Erdogan innenpolitisch zu profitieren, indem er die EU öffentlich vorführe - wegen ihres Versagens in der Migrationspolitik und ihrer Abhängigkeit von der Türkei: "Erdogan weiß sehr gut mit der Angst Europas zu spielen. Er hat mehrfach öffentlich erklärt: Ihr müsst mir Geld geben, ansonsten öffne ich die Grenzen und lasse alle Menschen nach Griechenland auswandern. Die Migranten sind ihm völlig egal. Er benutzt sie für seine eigenen, aggressiven Interessen."
Angriffe auf Menschenrechte und Rechtstaat
Begüm Basdas lehrt an der Berliner Hertie School of Governance und forscht zum Thema Migration. Seit Jahren kritisiert sie die Entscheidung der EU, die Türkei als sicheren Drittstaat anzuerkennen: "Die Menschenrechtssituation in der Türkei wird stetig schlechter, sowohl für die Bürgerinnen und Bürger des Landes, als auch für Migranten und Flüchtlinge", sagt sie der DW. "Die Angriffe auf die Menschenrechte und den Rechtstaat zeigen sich vor allem bei der enormen Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit." Öffentliche Kritik an der Regierung führe zu willkürlichen Verhaftungen und fabrizierten Strafanzeigen, ohne Zugang zu einem fairen, unabhängigen Justizsystem. Menschen auf der Flucht seien aus anderen Gründen unsicher in der Türkei: "Asylsuchende, die nicht aus Ländern des Europarates kommen, genießen aufgrund der geographischen Beschränkungen der Genfer Konvention keinen vollständigen internationalen Schutz."
Viele Afghaninnen und Afghanen würden nicht einmal registriert werden, sondern befänden sich dauerhaft in einem "Schwebezustand", der den rechtlichen Zugang vor allem zu Arbeit negativ beeinflusse. "Menschenrechtsorganisationen berichten außerdem davon, dass Syrer und Afghanen in ihre Heimatländer abgeschoben werden, obwohl ihr Leben dort in Gefahr ist", so Basdas.
Für die Migrationsforscherin steht fest: Das Versagen der EU bei der Migrationspolitik sorgt zunehmend für mehr antidemokratische und ausländerfeindliche Haltungen in der Türkei. "Politische Führer hetzen gezielt gegen Migranten und Flüchtlinge. Diese leben nun nicht nur mehr in der Angst abgeschoben zu werden, sondern laufen unmittelbar Gefahr, im Alltag angegriffen zu werden", sagt Basdas. Sie warnt zudem vor Konsequenzen für die EU selbst, sollte Brüssel in puncto Menschenrechte weiter beide Augen zudrücken: "Das führt zum Bruch mit den Grundprinzipien der EU, Menschen zu schützen, und stärkt extrem rechte Diskurse auch in Europa."