Türkische Anwälte gehen nicht zu Erdogan
2. September 2019Nach Angaben der Zeitung "Cumhuriyet" haben 52 von 79 Anwaltskammern den Empfang, der jedes Jahr zur Eröffnung des Gerichtsjahrs nach der Sommerpause stattfindet, boykottiert. Die Kammern kritisierten, dass die Veranstaltung im Präsidialpalast abgehalten und damit die Gewaltenteilung untergraben werde.
"In der Türkei wurde ein Großteil der Grund- und Freiheitsrechte, allen voran die Meinungsfreiheit, vernichtet", hieß es in einer vor einem Gericht in Ankara verlesenen Erklärung der örtlichen Anwaltskammer. Die verbliebenen Rechte würden als "Gefälligkeit" dargestellt.
Präsident Recep Tayyip Erdogan wies die Vorwürfe zurück und bezeichnete sie als "haltlos". Es handele sich um "fanatische und provokative Anmaßungen". Weiter sagte er: "Dieser Ort gehört nicht meiner Person. Dieser Ort ist, so wie ich es immer sage, das Haus des Volkes. Und alle Institute dieses Staates haben das Recht, diesen Ort problemlos zu nutzen."
Abgesetzt oder versetzt
Die Vorwürfe der türkischen Juristen bestätigt auch ein Istanbuler Anwalt im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. "Ein Richter hat nicht mehr die Möglichkeit, unabhängig zu entscheiden. Häufig werden sie abgesetzt." Als Beispiel nennt er ein Prestigeobjekt Erdogans, den Bau des neuen Flughafens Istanbul. Nach ersten Klagen seien die Arbeiten eingestellt worden. Danach seien die Richter abgesetzt oder versetzt worden. Neu berufene Richter hätten sofort die Urteile der ersten Instanz aufgehoben und die Bauarbeiten seien fortgesetzt worden.
Verschärft hat sich die Situation der türkischen Justiz durch einen Wandel des politischen Systems in der Türkei. Mit den Parlaments- und Präsidentenwahlen im Juni 2018 war die Türkei vollständig in ein Präsidialsystem übergegangen. In dem neuen System hat der Präsident auch mehr Einfluss auf die Justiz, unter anderem auf das Gremium, das für die Ernennung der Richter und Staatsanwälte zuständig ist. Seit dem Putschversuch von 2016 wurden per Dekret mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen und Zehntausende Menschen verhaftet.
cgn/gri (dpa, deutschlandfunk.de)