Türkische Opposition demonstriert Stärke
9. Juli 2017Mehr als 400 Kilometer war der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, zu Fuß von Ankara nach Istanbul marschiert. Zuletzt folgten ihm täglich zehntausende Menschen auf seinem Marsch.
Bei der Abschlusskundgebung rief der Chef der größten Oppositionspartei die türkische Regierung dazu auf, den Ausnahmezustand im Land aufzuheben. "Wir wollen, dass alle antidemokratischen Praktiken enden", sagte Kilicdaroglu. Dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan warf er vor, die Justiz zu beeinflussen. Die Gerichte würden ihre Entscheidungen "auf Anweisung des Palastes treffen", sagte Kilicdaroglu vor jubelnden Anhängern in Anspielung auf Erdogans Präsidentenpalast. "Wir sind marschiert, für die Gerechtigkeit, die es hier nicht gibt."
Der 68-Jährige kritisierte außerdem die von Erdogan vor dem Hintergrund des Notstands erlassenen Dekrete. "Wir sind für die im Gefängnis sitzenden Abgeordneten marschiert, für die eingesperrten Journalisten", sagte Kilicdaroglu. "Wir sind für die Dozenten marschiert, die von den Universitäten geworfen wurden." Solche Maßnahmen seien auch im Dritten Reich durchgeführt worden.
Hohe Sicherheitsvorkehrungen
Die Demonstranten skandierten "Recht, Justiz, Gerechtigkeit" und schwenkten türkische Fahnen. Nach Agenturberichten nahmen an der Kundgebung hunderttausende Menschen teil. Der CHP-Abgeordnete Özgür Özel bezifferte die Teilnehmerzahl nach Angaben des Senders CNN Türk sogar auf 1,6 Millionen.
15.000 Polizisten seien im Einsatz gewesen, berichtete der Sender unter Berufung auf den Gouverneur von Istanbul. Zu Beginn des Protestzugs war Kilicdaroglu nur von einigen hundert Polizisten begleitet über die Landstraße marschiert. Wegen der Vielzahl an Teilnehmern war die Marschstrecke allerdings zuletzt weiträumig für den Verkehr gesperrt worden.
Hintergrund der Aktion war das Urteil eines Istanbuler Gerichts gegen den CHP-Abgeordneten Enis Berberoglu. Dieser war wegen am 15. Juni wegen eines Artikels über geheime Waffenlieferung an islamistische Rebellen in Syrien zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. In einem Exklusivinterview der Deutschen Welle bewertete Kilicdaroglu das Urteil jedoch nur als "Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte". Bei dem Protestmarsch gehe um die unzähligen Ungerechtigkeiten, mit denen die türkische Bevölkerung konfrontiert sei.
Große Aufmerksamkeit in den Medien
Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte Kilicdaroglu wiederholt vorgeworfen, mit dem Marsch "Terroristen" zu unterstützen. Da der Marsch aber friedlich blieb, schritt die Regierung nicht ein. In den türkischen Medien fand der Protestzug zuletzt große Aufmerksamkeit. Während regierungstreue Zeitungen teils vom "Marsch der Verräter" schrieben, lobten andere Kolumnisten, dass es Kilicdaroglu erstmals gelungen sei, mit dem Marsch ein Thema zu setzen.
Kilicdaroglu war immer wieder vorgeworfen worden, Erdogan nicht entschieden genug entgegenzutreten. Auch in der eigenen Partei war kritisiert worden, dass er nach dem umstrittenen Verfassungsreferendum vom 16. April seine Anhänger nicht zu Protesten auf die Straße rief. Die Regierung hatte den Volksentscheid über die Stärkung der Macht des Präsidenten offiziell knapp gewonnen, doch hatte die Opposition ihr Wahlfälschung vorgeworfen.
HF/hk/pab (rtr, afp, dpa)