Ukraine aktuell: 60 Milliarden Euro für den Wiederaufbau
22. Juni 2023Das Wichtigste in Kürze:
- Kanzler: Deutsche Hilfe summiert sich auf bislang 16,8 Milliarden Euro
- Ukrainische Armee meldet Geländegewinne
- Wagner-Chef Prigoschin wirft Kreml Täuschung der Bevölkerung vor
- EU zahlt weitere 1,5 Milliarden Euro Hilfe
- AKW Saporischschja will wieder Wasser aus zerstörtem Stausee pumpen
Bei einer internationalen Wiederaufbau-Konferenz für die Ukraine haben ausländische Geber 60 Milliarden Euro für den Wiederaufbau der Wirtschaft des kriegszerstörten Landes zugesagt. "Wir hatten nicht vorgesehen, dass dies eine Geberkonferenz sein sollte", zeigte sich der britische Außenminister James Cleverly zum Abschluss der Konferenz erfreut. Nach seinen Angaben zielen die Zusagen von Regierungen und internationalen Organisationen darauf ab, die Ukraine kurz- und mittelfristig zu unterstützen.
Die Bemühungen konzentrierten sich nun darauf, "das enorme Potenzial des Privatsektors" zu erschließen. Ein Großteil der 60 Milliarden Euro kommt aus einem 50 Milliarden Euro schweren Hilfspaket, das die Europäische Union bis 2027 bereitstellen will. Die USA kündigten Unterstützung in Höhe von 1,3 Milliarden Dollar (etwa 1,2 Milliarden Euro) an, die vor allem für den Energiesektor und die Infrastruktur der Ukraine bestimmt sein soll.
Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze zog ein positives Fazit von dem Treffen. Im Interview der Deutschen Welle betonte sie, wie wichtig es sei, die gemachten Zusagen nun zu koordinieren. "Denn der Prozess des Wiederaufbaus hat jetzt begonnen. Wir brauchen jetzt die Häuser für die Menschen, die in der Ukraine sind. Wir brauchen Strom. Wir brauchen Wasser. Und das besser zu koordinieren, das ist der Kern dieser Konferenz."
Scholz betont Stärkung von Kiews Kampfkraft
Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Vorfeld des NATO-Gipfels in Litauen bekräftigt, dass ein Beitritt der Ukraine zu dem Bündnis vor einem Ende des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine nicht in Frage kommt. Das habe auch die ukrainische Regierung selbst festgestellt, sagte Scholz in einer Regierungserklärung im Bundestag. "Deshalb werbe ich dafür, dass wir uns in Vilnius auf das konzentrieren, was jetzt absolute Priorität hat: nämlich die tatsächliche Kampfkraft der Ukraine zu stärken." Beim NATO-Gipfel Mitte Juli in Litauens Hauptstadt wird es darum gehen, wie die Ukraine an die NATO herangeführt werden kann und welche Sicherheitsgarantien ihr nach einem Ende des Kriegs gegeben werden können.
Zu der von der Ukraine gewünschten formellen Einladung in die Allianz wird es aber voraussichtlich nicht kommen. Der Kanzler sagte der Ukraine erneut Unterstützung zu, solange dies nötig ist. Er verwies darauf, dass sich die zivile und militärische Hilfe Deutschlands inzwischen auf 16,8 Milliarden Euro summiere. Deutschland werde sich bei den Waffenlieferungen weiterhin auf gepanzerte Gefechtsfahrzeuge, Flugabwehrsysteme, Artillerie und die nötige Munition konzentrieren. Damit liefere die Bundesrepublik genau das, was die Ukraine bei der laufenden Offensive zur Befreiung ihrer Gebiete am dringendsten benötige.
Ukrainische Armee meldet Geländegewinne
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat zwei Wochen nach Beginn der ukrainischen Offensive Fortschritte an der Front gelobt. Im Süden seien die ukrainischen Truppen "in der Vorwärtsbewegung", sagte er am Mittwoch in seiner täglichen Videoansprache. Er räumte zwar schwere Kämpfe ein, doch überall - auch im Osten, wo die ukrainischen Truppen in der Defensive seien - werde der Feind vernichtet, sagte er.
Nach Angaben von Premierminister Denys Schmyhal hat die ukrainische Armee in der laufenden Gegenoffensive inzwischen acht Dörfer und 113 Quadratkilometer besetzen Gebiets zurückerobert. "Das ist ein riesiges Territorium", sagte Schmyhal bei der Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine in London. Zudem seien die ukrainischen Truppen auf einer Tiefe von bis zu sieben Kilometer in russisch besetztes Gebiet vorgestoßen. "Wir haben gute Ergebnisse", sagte Schmyhal. Trotzdem mahnte er zu Geduld.
Bei einer Gegenoffensive handele es sich um eine Reihe militärischer Einsätze, einige davon seien offensiv, andere defensiv. Manchmal seien taktische Pausen notwendig. Verlangsamt werde das Vorrücken zudem durch von den Russen angelegte Minenfelder. Man sei jedoch "absolut optimistisch", das gesamte von Russland besetzte Gebiet wieder zurückerobern zu können.
Bei der Ukraine Recovery Conference am Mittwoch und diesen Donnerstag in London wird darüber diskutiert, wie das seit Februar 2022 von Russland angegriffene Land wieder aufgebaut und die Wirtschaft wieder in Schwung gebracht werden kann.
Erst am Mittwoch hatte Selenskyj die Erwartungen der Öffentlichkeit an die ukrainische Offensive noch gedämpft. So räumte er in einem ausgestrahlten Interview der BBC ein, dass die Offensive "langsamer als gewünscht" vorankomme.
Russland: Brücke zur Krim durch ukrainischen Angriff beschädigt
Ukrainische Truppen haben nach Angaben der russischen Verwaltung des besetzten Teils der südukrainischen Oblast Cherson eine wichtige Brücke angegriffen, die das Festland mit der 2014 annektierten Halbinsel Krim verbindet. Die Tschongar-Brücke sei mit Raketen vom Typ Storm Shadow beschossen worden, teilte der von Moskau eingesetzte Gouverneur, Wladimir Saldo, mit. Die Straße sei beschädigt worden, könne aber repariert werden. Der Verkehr werde derzeit umgeleitet. Opfer habe es nicht gegeben. Laut Salso wurden auch noch andere Brücken in der Region attackiert.
Großbritannien hat der Ukraine Raketen vom Typ Storm Shadow mit einer Reichweite von mehr als 250 Kilometern zur Verfügung gestellt. Das ermöglicht Kiew auch Angriffe weit hinter der Front. Die Tschonhar-Brücke ist eine von drei Anfahrtsrouten von der Krim ins nördlicher gelegene Gebiet Cherson. Beobachtern zufolge ist sie für die Russen ein wichtiger Weg, um die eigenen Truppen an der Front zu versorgen. Die Halbinsel Krim ist außerdem über die Kertsch-Brücke mit dem russischen Festland verbunden. Auch sie wurde im vergangenen Herbst bei einem Angriff beschädigt.
Wagner-Chef: "Kreml täuscht die eigene Bevölkerung"
Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner hat Moskau vorgeworfen, die Menschen in Russland über den Verlauf der ukrainischen Offensive zu belügen. "Sie führen das russische Volk in die Irre", sagte Jewgeni Prigoschin in einer am Mittwoch veröffentlichten Sprachnachricht. "Große Gebiete sind an den Feind abgegeben worden", fügte er hinzu.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat wiederholt behauptet, dass die ukrainische Offensive fehlschlage. Doch Wagner-Chef Prigoschin, dessen Söldner seit Monaten Angriffe auf Städte in der Ostukraine angeführt haben, beschuldigte das Verteidigungsministerium, nicht die Wahrheit zu erzählen. Eine Reihe von Dörfern, darunter Pjatychatky, seien verloren gegangen, sagte Prigoschin und verwies auf fehlende Waffen und Munition.
UN-Bericht: Russland tötete 136 Kinder
Die Vereinten Nationen machen Russland für die Tötung von 136 Kindern im Jahr 2022 in der Ukraine verantwortlich. Dies geht aus einem jährlichen Bericht von UN-Generalsekretär Antonio Guterres an den Sicherheitsrat hervor. Darin werden russische oder mit Russland verbündete Einheiten auch für 480 Angriffe auf Schulen oder Krankenhäuser verantwortlich gemacht. Zudem habe die russische Armee in 91 Fällen Kinder als menschliche Schutzschilde missbraucht. Die Ukraine wird ihrerseits für 80 getötete Kinder sowie 212 Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser verantwortlich gemacht. Stellungnahmen der beiden Staaten liegen nicht vor.
Russischer Angriff auf Geheimdienstzentrale
Der ukrainische Militärgeheimdienst HUR hat Berichte über einen russischen Raketenschlag gegen seine Zentrale bestätigt. Die Angriffe hätten Ende Mai stattgefunden, aber "weder das gewünschte noch das verkündete Ziel erreicht", sagte der Sprecher der Behörde, Andrij Jussow im ukrainischen Fernsehen.
Über den Raketenschlag hatte unter anderem Russlands Präsident Wladimir Putin berichtet. Erste Informationen über einen Angriff auf die HUR-Zentrale tauchten am 29. Mai auf. Augenzeugen berichteten damals über Explosionen auf der Kiewer Rybalskyj-Insel, einer Halbinsel im Fluss Dnipro. Offiziell gab es damals keine Stellungnahme aus Kiew.
Zu den Folgen des Angriffs wollte sich Jussow auch jetzt nicht äußern. In einigen russischen Medien hieß es, dass bei dem Beschuss auch der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes Kyrylo Budanow verletzt worden sei. Nach wochenlangem Schweigen tauchte Budanow am Dienstag das erste Mal im ukrainischen Fernsehen wieder auf. Äußerlich waren ihm dabei keine Verletzungen anzusehen.
EU zahlt weitere 1,5 Milliarden Euro Hilfe
Die Europäische Union hat der Ukraine weitere 1,5 Milliarden Euro Hilfe zur Verfügung gestellt. Mit dem Geld soll garantiert werden, dass das Land Löhne und Renten zahlen sowie Krankenhäuser, Schulen und Unterkünfte für Flüchtlinge aufrecht erhalten kann, wie die EU-Kommission in Brüssel mitteilte. Außerdem sollen Wasserversorgung, Straßen und Brücken wiederhergestellt werden. Seit Kriegsbeginn vor 16 Monaten erhielt die Ukraine von der EU mehr als 70 Milliarden Euro Hilfe. "Europa hält sein Wort", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
AKW Saporischschja will Kühlwasser aus zerstörtem Stausee pumpen
Das von Russen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja will wieder Wasser aus dem beschädigten Reservoir des zerstörten Kachowka-Staudamms pumpen, um die Reaktoren zu kühlen. Das teilte die Internationale Energiebehörde IAEA mit. In den vergangenen zwei Wochen hatte das Atomkraftwerk sein Kühlungswasser von den Reserven eines nahegelegenen Wärmekraftwerks erhalten.
Vorige Woche hatte die UN-Agentur nach einem Besuch von IAEA-Chef Rafael Grossi noch mitgeteilt, dass es unklar sei, ob das Atomkraftwerk wieder Wasser aus dem beschädigten Reservoir pumpen könne.
UN: Minenräumung "wie nach dem Zweiten Weltkrieg"
Die Vereinten Nationen haben die bevorstehende Minenräumung in der Ukraine mit der Räumung von Sprengstoffen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen. "Womit wir in der Ukraine konfrontiert sind, gleicht sehr dem, womit Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert war", sagte der Leiter des UN-Programms für Minenräumung, Paul Heslop, am Mittwoch in Genf. Heslop verwies darauf, dass Europa 15 Jahre gebraucht habe, um das Problem zu lösen.
Um die Landminen zu räumen, die die ukrainische Wirtschaft am meisten bremsen, veranschlagte Heslop für die kommenden fünf Jahre bis zu 300 Millionen Dollar (275 Millionen Euro) pro Jahr an Kosten. Die UN wollen Kiew bei der Bewältigung dieser Aufgabe helfen.
Heslop rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, bei der Finanzierung der Minenräumung zu helfen. Die Ukraine könne so "ihren Platz als landwirtschaftliches Zentrum wieder einnehmen" und damit die "Lebensmittelpreise für alle senken". Bisher wurden rund 35 Millionen Dollar für die Minenräumung zusammengetragen.
Die Ukraine hat den Vertrag von Ottawa aus dem Jahr 1997 unterzeichnet, der Anti-Personen-Minen verbietet - Russland nicht. Laut Heslop gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Ukraine im Krieg mit Russland solche Minen eingesetzt hat, jedoch "umfassende Beweise, dass die Russen dies getan haben". Beide Seiten würden umfänglich Panzerabwehrminen einsetzen, fügte er hinzu.
sti/as/mak/bru (rtr, dpa, afp)
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