Aktuell: London verspricht Kiew gepanzerte Fahrzeuge
9. April 2022
Das Wichtigste in Kürze:
- Boris Johnson sagt in Kiew 120 gepanzerte Fahrzeuge zu
- Geberkonferenz in Warschau sammelt Milliarden für Ukraine
- Washington macht Russland für Angriff auf Kramatorsk verantwortlich
- Angriffe im Donbass dauern an
- USA: Russland mobilisiert 60.000 Reservisten
Der Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson in Kiew war eine Überraschung. Im Gepäck hatte er die Zusage für eine Lieferung von 120 gepanzerten Fahrzeugen und Anti-Schiffsraketensystemen für die Ukraine zur Abwehr des russischen Angriffs. "Wir steigern unsere militärische und wirtschaftliche Unterstützung und bringen eine weltweite Allianz zusammen, um diese Tragödie zu beenden", sagte Johnson nach einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Es müsse sichergestellt werden, dass "die Ukraine als freie und souveräne Nation überlebt und gedeiht".
Selenskyj will weiter mit Moskau verhandeln
Trotz des Angriffs auf den Bahnhof in Kramatorsk setzt Selenskyj weiter auf Friedensverhandlungen mit Moskau - dies trotz der russischen Truppenkonzentrationen im Osten und Süden des Landes. Das sagte der ukrainische Präsident nach einem Treffen mit Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer in Kiew.
In Warschau hat eine internationale Geberkonferenz für die Ukraine-Flüchtlingshilfe Spenden- und Kreditzusagen in Höhe von 9,1 Milliarden Euro eingebracht. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte per Videobotschaft, Deutschland stelle zusätzliche 425 Millionen Euro an humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe für die Ukraine und ihre Nachbarstaaten zur Verfügung. Hinzu kämen 70 Millionen Euro an medizinischer Unterstützung. "Deutschland steht der Ukraine zur Seite."
EU-Kommission stellt eine Milliarde Euro bereit
Zusätzlich zu den Milliardenspenden werde die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) eine Milliarde Euro in Krediten für vertriebene Menschen bereitstellen, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der polnischen Hauptstadt. Die EU-Kommission sagte eine Milliarde Euro zu, wie von der Leyen bekannt gab. "600 Millionen Euro davon werden an die Ukraine, die ukrainischen Behörden und zum Teil an die Vereinten Nationen gehen", so von der Leyen. "Und 400 Millionen Euro gehen an die Frontstaaten, die so hervorragende Arbeit leisten und den Flüchtlingen helfen, die kommen."
Einberufen wurde die Geberkonferenz von der Nichtregierungsorganisation Global Citizen, der EU-Kommission und der kanadischen Regierung. Die Gelder sollen etwa an Projekte der Vereinten Nationen und örtlicher Hilfsorganisationen gehen. Die Konferenz fand in Warschau statt, weil mehr als 2,5 Millionen der 4,4 Millionen Menschen, die seit Beginn der russischen Invasion aus der Ukraine geflohen sind, nach Polen geflohen sind.
Gut sechs Wochen nach Beginn des Krieges in der Ukraine ist auch der Botschafter der Europäischen Union wieder in der EU-Vertretung in Kiew. Botschafter Matti Maasikos wird seine Arbeit in der ukrainischen Hauptstadt mit einem kleinen Team wiederaufnehmen. Die EU-Vertretung war einen Tag nach Kriegsbeginn komplett evakuiert worden, ein Kernteam
arbeitete fortan von Rzeszow in Südpolen aus.
Italien kündigte am Samstag an, seine Botschaft in Kiew gleich nach Ostern wieder zu öffnen. "Wir waren die letzten, die Kiew verlassen haben, und wir werden unter den ersten sein, die zurückkehren", sagte Außenminister Luigi Di Maio.
USA machen Russland verantwortlich
Zuvor hatte das US-Verteidigungsministeriums die russischen Streitkräfte für den tödlichen Raketenangriff auf einen Bahnhof in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk verantwortlich gemacht. Russlands offizielle Dementis in dieser Sache seien "nicht überzeugend", sagte der Sprecher des Pentagons, John Kirby. "Unsere Einschätzung ist es, dass das ein russischer Angriff war und dass sie eine ballistische Kurzstreckenrakete genutzt haben, um ihn auszuführen", so Kirby. Der Angriff sei erneut ein Beispiel der russischen "Brutalität" und der "Sorglosigkeit" gegenüber der Zivilbevölkerung.
Nach Angaben eines ranghohen Pentagon-Vertreters setzte Russland bei dem Angriff wohl den Raketentyp SS-21 ein, der in Russland unter dem Namen Totschka bekannt ist. Bislang sei noch unklar, ob dabei auch Streumunition zum Einsatz gekommen sei, sagte der leitende Beamte.
Auch die Europäische Union machte Russland verantwortlich. Der außenpolitische Sprecher der EU sprach von einem Kriegsverbrechen und stellte den Angriff in eine Reihe mit "von den russischen Streitkräften begangenen Gräueltaten in Butscha, Borodjanka und anderen Städten und Dörfern" in der Ukraine.
Die Ukraine und Russland hatten sich am Freitag gegenseitig die Schuld für die Attacke gegeben. Bei dem Angriff auf den Bahnhof waren mindestens 50 Menschen getötet worden, darunter fünf Kinder. Etwa 100 Menschen wurden verletzt, wie der Gouverneur des Gebiets Donezk, Pawlo Kyrylenko, sagte. An dem Bahnhof hätten Tausende Menschen darauf gewartet, fliehen zu können.
Die Angriffe russischer Einheiten im Donbass im Osten der Ukraine gehen ukrainischen Angaben zufolge weiter. Die russischen Truppen konzentrierten sich darauf, die Orte Rubischne, Nischne, Popasna und Nowobachmutiwka zu übernehmen und die volle Kontrolle über die Stadt Mariupol zu erlangen, teilte der ukrainische Generalstab mit. Im Süden des Landes seien in der Region Odessa Ziele mit Raketen beschossen worden.
Angriffe im Donbass dauern an
Laut dem Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj, wird ein Teil der 50.000-Einwohner-Stadt Rubischne bereits von russischen Einheiten kontrolliert. Es gebe ständige Positionskämpfe und Beschuss. Auch Popasna mit seinen rund 20 000 Einwohnern werde seit mehr als einem Monat "niedergebügelt". Es sei unmöglich, Menschen aus der Gefahrenzone zu bringen.
Insgesamt gebe es verstärkten russischen Beschuss. "Sie bündeln Kräfte für eine Offensive, und wir sehen, dass die Zahl der Granateneinschläge zugenommen hat." Es müssten mehr Siedlungen evakuiert und die Zivilbevölkerung in Sicherheit gebracht werden. Noch immer hielten sich 30 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner in den Orten der Region auf.
Weitere Sanktionen gegen Russland wirksam
Die EU hat ihr fünftes großes Sanktionspaket gegen Russland in Kraft gesetzt. Das am Freitagabend im EU-Amtsblatt veröffentlichte Paket enthält unter anderem Strafmaßnahmen gegen mehr als 200 weitere russische Personen, darunter die beiden erwachsenen Töchter von Kreml-Chef Wladimir Putin, und 18 weitere russische Unternehmen. Das ebenfalls in dem Sanktionspaket enthaltene Kohle-Embargo gegen Russland wird nach 120 Tagen wirksam.
Auf der neuen EU-Sanktionsliste stehen unter anderem auch der Chef des größten russischen Geldinstituts Sberbank, Herman Gref, der Oligarch und Waffenfabrik-Besitzer Oleg Deripaska und der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. Gegen Putin selbst hatte die EU bereits kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar Strafmaßnahmen verhängt.
Der Druck auf die EU-Staaten, Importverbote für russische Energielieferungen zu verhängen, war zuletzt gestiegen. Einigen konnten sich die 27 Mitgliedstaaten bislang jedoch nur auf einen Exportstopp für Kohle. Ein von der Ukraine sowie dem EU-Parlament gefordertes Gas-Embargo wird insbesondere von Deutschland und Österreich abgelehnt.
"Deutschland ist konservativ und kalt"
Selenskyj hat der Bundesregierung erneut einen zu zögerlichen Kurs in der Ukraine-Politik und im Kampf gegen Russland vorgeworfen. Im Interview mit "Bild" lobte Selenskyj das Kohle-Embargo im neuen EU-Sanktionspaket gegen Russland, kritisierte jedoch, dass es nicht weit genug gehe. "Einige Länder, Deutschland gehört auch dazu, sind gegen ein Öl und Gas-Embargo. Ich bin froh, dass das fünfte Paket (der EU-Sanktionen) das Kohle-und-Holz-Embargo enthält", so Selenskyj. Zwei Länder, darunter auch Deutschland, hätten für Übergangsfristen von vier Monaten gestimmt, sagte er.
Der Präsident mahnte erneut mehr Unterstützung an. "Deutschland hat uns nicht mit Waffen unterstützt. Deutschland hat offen darüber gesprochen, dass wir kein Mitglied der NATO sein werden. Aber wenn wir ehrlich bleiben: die Rhetorik von Deutschland hat sich verändert. Deutschland ist konservativ und kalt - aber der Zug hat sich bewegt". Die Menschen in Deutschland seien aber "absolut nicht kalt", betonte der ukrainische Präsident. Er habe die großen Demonstrationen für die Ukraine gesehen. "Da war viel Unterstützung. Dort habe ich das Gesicht der Deutschen gesehen", sagte Selenskyj.
Auf der Flucht
Mehr als 6500 Menschen konnten nach Angaben aus Kiew am Freitag umkämpfte ukrainische Gebiete verlassen. Das teilte die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk in einer auf Facebook veröffentlichten Videobotschaft mit. Mehr als 1600 Menschen stammten aus der belagerten Hafenstadt Mariupol, mehr als 3500 seien Bewohner des Gebiets Saporischschja. Rund 1500 weitere Menschen habe man aus dem Gebiet Luhansk in Sicherheit bringen können.
Mobilisierung von 60.000 Reservisten
Die russischen Streitkräfte haben nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums Tausende zusätzliche Soldaten nahe der Grenze zur ukrainischen Stadt Charkiw zusammengezogen. Die Zahl der taktischen Bataillone in der Nähe der russischen Stadt Belgorod sei von 30 auf inzwischen 40 angestiegen, sagte ein ranghoher Beamter am Freitag. Er nannte keine genaue Zahl der zusätzlichen Truppen, aber solche Bataillone bestehen typischerweise aus etwa 600 bis 1000 Soldaten.
Das russische Militär ziehe seine Kräfte dort zusammen, um seinen Einsatz auf die Eroberung der ostukrainischen Region Donbass zu konzentrieren, sagte er. Es gebe auch Berichte, wonach die Einheiten, die nun im Osten eingesetzt werden sollten, durch das Mobilisieren "Zehntausender Reservisten" verstärkt werden sollten. Demnach gebe es Hinweise, dass die Russen hofften, "mehr als 60.000 Soldaten" zu mobilisieren.
Russland schließt Büros von Amnesty und deutschen Stiftungen
Russland schließt die Büros mehrerer namhafter internationaler Organisationen, darunter deutsche Parteistiftungen sowie die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch. Sie seien "aus dem offiziellen Register ausländischer Nichtregierungsorganisationen" in Russland aufgrund von "Verstößen gegen das russische Recht" ausgeschlossen worden, teilte das Justizministerium in Moskau mit. Dies entspreche de facto der Schließung, erklärte Amnesty.
Zu den insgesamt 15 betroffenen Organisationen gehören laut dem Justizministerium auch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung, die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung, das Politikinstitut Carnegie Endowment for International Peace und die polnische Organisation Wspolnota Polska.
Die Organisationen seien "dafür bestraft worden, dass sie die Menschenrechte verteidigt und den russischen Behörden die Wahrheit gesagt haben", erklärte die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnes Callamard. Die Regierung in Moskau täusche sich aber, wenn sie glaube, durch die Schließung des Moskauer Büros Amnesty daran hindern zu können, "Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und aufzudecken". Auch Human Rights Watch kündigte an, weiter zu Verstößen gegen die Menschenrechte in Russland zu recherchieren.
fab/cw/jj/nob/uh (dpa, rtr, afp)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.