Ukraine aktuell: Streit im Sicherheitsrat über Kachowka-Damm
7. Juni 2023Das Wichtigste in Kürze:
- Ukraine und Russland streiten im UN-Sicherheitsrat
- UN: Staudamm-Bruch vernichtet benötigtes Getreide
- Kühlwasser am AKW Saporischschja reicht für sechs Monate
- Selenskyj: Gegenoffensive "nicht gefährdet"
- Frankreich und Deutschland sagen Hilfe zu
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine haben sich Kiew und Moskau vor dem UN-Sicherheitsrat gegenseitig die Schuld zugewiesen. Der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kislizia sprach bei einer kurzfristig einberufenen Dringlichkeitssitzung in New York von einem "Akt des ökologischen und technologischen Terrorismus". Die Sprengung sei "ein weiteres Beispiel für den Völkermord Russlands an den Ukrainern". Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja sagte dagegen, dass der Vorfall auf "vorsätzliche Sabotage Kiews" zurückzuführen und wie ein Kriegsverbrechen einzuordnen sei. Der Staudamm sei für ein "unvorstellbares Verbrechen" benutzt worden.
Die US-Regierung kann nach eigener Darstellung nicht abschließend die Ursache für den geborstenen Staudamm benennen. Es würden Berichte geprüft, wonach eine Explosion von Russland verursacht worden sei, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby. Auch die britische Regierung forscht weiter nach der Ursache.
Wasserstand steigt bei Cherson
Der Wasserpegel in den durch den Dammbruch überfluteten Gebieten am Ufer des Dnipro ist weiter gestiegen. Am schwierigsten sei die Lage im Viertel Korabel in der Großstadt Cherson, teilte der Vizekabinettschef des ukrainischen Präsidenten, Oleksij Kuleba, mit. Das Wasser habe dort eine Höhe von fünf Metern erreicht, mehr als 1000 Häuser seien überflutet. Laut Rettungsdiensten wurden dort bislang mehr als 1450 Menschen in Sicherheit gebracht.
In dem von russischen Truppen kontrollierten Teil der Region Cherson verhängten die Besatzer den Notstand. Das meldete die russische Nachrichtenagentur TASS unter Berufung auf Rettungsdienste. Der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef Wladimir Saldo sagte dem russischen Staatsfernsehen, zwischen 22.000 und 40.000 Menschen seien von den Überflutungen betroffen.
Dagegen sollen die Wassermassen in der nahe dem geborstenen Staudamm gelegenen Stadt Nowa Kachowka laut den russischen Besatzungsbehörden allmählich wieder zurückgehen. Der Pegelstand auf den zuvor überfluteten Straßen von Nowa Kachowka beginne zu sinken, teilte die von Russland installierte Verwaltung der Stadt mit. Bis zu 100 Menschen seien allerdings noch von Wassermassen eingeschlossen, hieß es weiter.
Hunderttausende Menschen ohne Trinkwasser
Durch den Bruch des Staudamms und die Überschwemmungen sind nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Hunderttausende Menschen von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. "Die Zerstörung eines der größten Wasserreservoirs der Ukraine ist absolut vorsätzlich geschehen", ließ Selenskyj verlauten.
UN: Staudamm-Bruch vernichtet benötigtes Getreide
Die Welternährungsorganisation (WFP) warnt wegen des Dammbruchs vor verheerenden Konsequenzen für hungernde Menschen weltweit. "Die massiven Überflutungen vernichten neu angepflanztes Getreide und damit auch die Hoffnung für 345 Millionen Hungerleidende auf der ganzen Welt, für die das Getreide aus der Ukraine lebensrettend ist", betonte der Leiter des Berliner WFP-Büros, Martin Frick.
Das ukrainische Agrarministerium rechnet ersten Schätzungen zufolge mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet, werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, erklärte das Ministerium auf seiner Webseite.
Insgesamt geht das ukrainische Landwirtschaftsministerium davon aus, dass ohne den Stausee künftig 500.000 Hektar Land nicht bewässert werden könnten. Sie drohten sich in Wüsten zu verwandeln. Zudem erwarten Experten, dass das Hochwasser Chemikalien und Schmierstoffe aus der Industrie in den Boden spülen wird. Ökosysteme und die Artenvielfalt würden dadurch dauerhaft geschädigt.
Kühlung von AKW Saporischschja vorerst gesichert
Das von Russland besetzte ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja hat nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) noch für mehrere Monate Kühlwasser. Der nahe gelegene Kühlteich sei gegenwärtig voll und die sechs Reaktoren heruntergefahren, teilt die UN-Agentur mit. Es seien Maßnahmen zur Einsparung von Wasser eingeleitet worden. Allerdings sei eine bereits sehr schwierige Lage nun noch schwieriger geworden. Sollte der Wasserpegel im Stausee unter ein bestimmtes Niveau absinken, ließe sich kein neues Wasser ins AKW pumpen.
IAEA-Chef Grossi warnte allerdings, in "ein paar Tagen" könne der Pegel des Stausees so niedrig sein, dass kein neues Wasser mehr zum Kraftwerk gepumpt werden könnte. Der Dnipro versorgt das Atomkraftwerk mit Kühlwasser. Grossi kündigte für kommende Woche einen Besuchs des AKW an. Der von Russland eingesetzte Leiter des AKW, Juri Tschernitschuk, erklärte im Onlinedienst Telegram, der Wasserstand im Kühlbecken habe sich "nicht verändert".
Selenskyj: "Gegenoffensive nicht gefährdet"
Der zerstörte Kachowka-Staudamm hat nach Angaben von Präsident Selenskyj keine Auswirkungen auf die Gegenoffensive der Ukraine. "Die Explosion des Damms hat nicht die Fähigkeit der Ukraine beeinträchtigt, seine eigenen Gebiete von der Besatzung zu befreien", versicherte Selenskyj
.
Der Präsident fügte hinzu, er habe mit den höchsten Militärs gesprochen. Diese hätten ihm versichert, dass die ukrainische Armee absolut bereit für die Gegenoffensive sei. Der Präsident hatte bereits am Wochenende den Abschluss der Vorbereitungen für die seit Langem erwartete Gegenoffensive seines Landes gegen die russischen Invasionstruppen verkündet.
Berlin und Paris sagen Hilfe zu
Die Bundesregierung hat Hilfe für die von Überschwemmungen bedrohten Gebieten angekündigt. Deutschland werde der Ukraine zur Seite stehen, um diese Katastrophe inmitten des von Russlands Präsidenten Wladimir Putin geführten Angriffskrieges zu bewältigen, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Man wolle vor allem dabei helfen, evakuierte Menschen versorgen zu können, so die SPD-Politikerin. Das Technische Hilfswerk (THW) bereite deshalb bereits jetzt mit Hochdruck deutsche Hilfslieferungen für die betroffene Region vor, die "binnen kürzester Zeit" auf den Weg auf den Weg gebracht werden sollten.
In einer Mitteilung des Technischen Hilfswerks hieß es, der ukrainische Katastrophenschutz (DSNS) werde mit der Lieferung von 5000 Wasserfiltern unterstützt. Die Filter stellten jeweils die Versorgung einer Familie mit sauberem Wasser sicher. Eine Spedition werde die Lieferung in die Ukraine fahren.
Auch Frankreich hat der Ukraine Unterstützung angeboten. Das Außenministerium in Paris teilte mit, man "halte sich bereit", den "ukrainischen Behörden Hilfe zu leisten". Man sei wegen der humanitären und ökologischen Auswirkungen sowie der Folgen für die Sicherheit des Atomkraftwerks Saporischschja sehr besorgt, heißt es in dem Schreiben weiter.
Angriffe auf Ammoniak-Pipeline
Russische Streitkräfte haben nach Angaben des Gouverneurs der Region Charkiw wiederholt eine dort verlaufende Ammoniak-Pipeline beschossen. "Es besteht keine Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Menschen", teilt Oleh Synjehubow auf der Nachrichten-App Telegram mit. Russland hingegen spricht von ukrainischer Sabotage.
Die Amoniak-Pipeline misst insgesamt rund 2500 Kilometer. Sie verbindet die russische Stadt Togliatti an der Wolga mit dem Hafen der ukrainischen Stadt Odessa am Schwarzen Meer. Ammoniak ist ein wichtiger Bestandteil bei der Herstellung von Düngemitteln. Deshalb ist die Pipeline möglicherweise entscheidend für die Verlängerung des Abkommens, das trotz des Krieges die sichere Ausfuhr von Getreide und Düngemitteln aus den Häfen am Schwarzen Meer ermöglichen soll.
Stoltenberg: NATO muss sich mit Sicherheitsgarantie befassen
Die NATO muss sich Generalsekretär Jens Stoltenberg zufolge mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine für die Zeit nach dem Krieg auseinandersetzen. Es brauche Vorkehrungen, um sicherzustellen, dass Russland nach dem Kriegsende seine Truppen nicht einfach woanders für einen weiteren Angriff stationiere, sagt Stoltenberg vor der Presse in Brüssel. Er stellt zudem klar, dass es umfassende Sicherheitsgarantien der NATO nach Artikel 5 nur für ordentliche Mitglieder des Verteidigungsbündnisses gebe.
mak/rb/se/AR/qu/uh (afp, dpa, rtr)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.