Ukraine: Durchhaltewille und Ruf nach neuen Frontkämpfern
10. Januar 2024Das Jahr hat für viele Menschen in der Ukraine so begonnen wie viele den ganzen Winter erwartet haben: Wieder Luftangriffe der Russen, wieder Raketen und Drohnen gegen die Infrastruktur und zivile Wohnhäuser. Neu ist die Massivität der einzelnen Anschlagswellen: Mit mehr Raketen, mit mehr Drohnen will Russland die ukrainische Flugabwehr überwinden.
Die UN-Nothilfe Agentur OCHA (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) in der Ukraine bilanziert, die Angriffe der Kreml-Armee ließen "Hunderttausende von Menschen ohne Strom- und Wasserversorgung". Und das, während "die Temperaturen laut Prognosen in den kommenden Tagen auf -20 Grad Celsius fallen könnten".
Russlands Angriffe zielen auch auf die Widerstandsmoral der Ukrainerinnen und Ukrainer. Doch die haben sich kurz vor dem zweiten Jahrestag des Krieges offenbar darauf eingerichtet. Immer wieder gibt es Berichte von Menschen, die trotz heulenden Luftalarms nicht mehr in die tiefen Bunkerschächte der Kiewer Metro hinabeilen. Sie hocken sich stattdessen in den fensterlosen Wohnungsflur, weg von den Außenwänden, der etwas Schutz vor zerberstenden Wänden und Fensterscheiben bieten soll.
Umfrage: 58 Prozent wollen ohne Westen weiterkämpfen
Dass sich die Menschen auf den Krieg eingestellt haben, belegt auch eine Umfrage des renommierten Kiewer Umfrageinstitut KIIS (Kyiv International Institute of Sociology). Demnach sagen 58 Prozent der befragten Ukrainerinnen und Ukrainer, dass die Gegenangriffe nach dem Winter weitergehen müssten, auch wenn die mehr als 50 Unterstützernationen unter Führung der USA nicht mehr helfen würden.
"Gleichzeitig ist jeder dritte Befragte (32 Prozent) der Ansicht, dass es besser ist, die Feindseligkeiten unter der Bedingung wirklich ernsthafter Sicherheitsgarantien des Westens einzustellen, auch wenn sich die Befreiung der besetzten Gebiete auf unbestimmte Zeit verzögern wird", schreibt KIIS.
In einer Umfrage zuvor hatte das Institut gemessen, dass landesweit 80 Prozent einen dauerhaften Verzicht auf ukrainisches Territorium ablehnen. Und das in einer Lage, in der die Soldatinnen und Soldaten an der Front nun schon seit Monaten Munition, vor allem Artilleriegeschosse, rationieren müssen - weil die Lieferungen aus den westlichen Unterstützernationen viel geringer ausfallen als versprochen. Doch gegen die russischen Angreifer zu verlieren ist für die überwiegende Mehrheit im Land offenbar keine Option.
Der 38-jährige Oleh, der wie die meisten Soldaten ohne Nachnamen zitiert werden möchte und jetzt schon bald zwei Jahre als Mediziner in der Armee dient, sagt im DW-Gespräch: "Die Reduzierung der westlichen Hilfe ist ganz natürlich und zu erwarten". Dies werde ein "langer Krieg". Die Ukraine müsse viel mehr Munition und Waffen im eigenen Land produzieren, so der Soldat.
Proteste in der Ukraine: Mehr Hilfe für die Front
Immer wieder gibt es Demonstrationen in Kiew. Im Dezember skandierten Protestierende vor dem Rathaus: "Geld für die Armee!" Mehrere Dutzend Menschen versammelten sich in der Nähe der Stadtverwaltung, während drinnen über den Haushalt für das Jahr 2024 beraten wurde.
Die Demonstranten forderten, eher auf Infrastrukturprojekte in der Stadt zu verzichten und das Geld für die Soldatinnen und Soldaten an der Front einzusetzen. Dabei war auch der Demonstrant Ilya, der den politischen Streit in der Hauptstadt kritisierte. "Die lokalen Behörden führen keinen Krieg. Sie engagieren sich in der Politik", sagt der 26-jährige im DW-Interview.
Bei einem anderen Protest forderten Familien von Soldaten die Demobilisierung derjenigen, die länger als ein Jahr im Dienst sind. "Mein Mann ging zu Beginn der groß angelegten Invasion zum Militärdienst", sagt die 18-jährige Alina Strashko der DW. Wie viele Freiwillige dachte auch er, er würde nach einer Weile ersetzt werden. Doch er kämpfe jetzt seit bald zwei Jahren. "Ein Urlaub reicht nicht aus, um sich von all dem zu erholen, was sie an der Front erlebt haben", so Alina.
Neue Mobilisierung: Forderung nach Austausch der Frontkämpfer
Von Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde zuletzt die Mobilisierung von 500.000 frischen Soldaten gefordert. Dafür liegt im ukrainischen Parlament ein Gesetzesentwurf vor, der die Mobilisierung neu regeln soll. Beteiligte Abgeordnete gehen davon aus, dass es dabei weder ein Lotterieverfahren geben soll, noch Frauen einen Einberufungsbescheid erhalten sollen. In der Armee kämpfen viele Soldatinnen freiwillig. Die Zahl der Freiwilligen sinkt allerdings.
Der Druck auf Selenskyj ist groß, vor allem die langjährigen Kämpferinnen und Kämpfer zu entlasten. Das beobachtet Vasylyna Duman, die schon seit 2014, dem russischen Versuch, die Donbas-Region zu erobern, wie so viele Freiwillige Spenden für die Fronteinheiten sammelt. Warme Kleidung, selbst Lebensmittel bis hin zu Drohnen aus Spendenmitteln werden oft von diesen Helfergruppen an die Front gebracht.
"Menschen, die seit zwei Jahren kämpfen, verdienen es, demobilisiert zu werden", sagt die 37-jährige Helferin im DW-Interview. "Sie müssen wissen, dass die schrecklichen Bedingungen, unter denen sie leben, eines Tages enden werden."
Russland: "Quelle von Problemen für die Welt"
Ähnliches sagt der 38-jährige Sanitäts-Soldat Oleh: Er sei nicht demotiviert, "aber ich fühle mich müde". Er möchte demobilisiert werden, sagt er gegenüber der DW. Gleichzeitig sei ihm klar, dass das nicht schnell passieren werde, "weil es niemanden gibt, der uns ersetzt".
Und dennoch sind sich der Soldat Oleh und die Soldaten-Helferin Vasylyna Duman einig: Selbst wenn die westliche Hilfe nachlasse, "die Ukraine wird weiterkämpfen". Und selbst wenn der Druck auf ihre Staatsführung steige, in Verhandlungen einzutreten, dann "wird dies Russland nicht verändern".
Mehr noch, sagt Vasylyna Duman resolut: "Ungestraft wächst das Böse". Russland müsse diesen Krieg verlieren, damit es sich ändere. "Andernfalls wird es eine ständige Quelle von Problemen für die ganze Welt sein." Allerdings: Die Diskussion darüber, wie in der Ukraine die Lasten dieses Kampfes verteilt werden, nimmt immer mehr Fahrt auf.