Ukraine-Krieg: Frieden nur gegen Land?
6. November 2022Der Krieg in der Ukraine steckt in einer Pattsituation. Zwar hat die ukrainische Armee, auch dank westlicher Waffen, größere von Russland besetzte Gebiete zurückerobert. Andererseits schreckt Russlands Präsident Wladimir Putin offenbar vor nichts zurück; er lässt gezielt zivile Infrastruktur und Wohngebiete in der Ukraine zerstören und droht mit Atomwaffen.
Besonders jetzt vor dem Wintereinbruch stellt sich die Frage: Wie lange geht der Krieg noch weiter? Wie könnte er beendet werden und mit welchem Ergebnis?
Militärische Lösung
Grob gesagt, gibt es zwei Argumentationslager. Nach dem einen kann es nur eine militärische Lösung geben. Danach muss die Ukraine die russische Armee aus allen bisher eroberten Gebieten einschließlich der Krim vertreiben. Erst dann könne es Verhandlungen mit Russland geben. Diese Meinung vertritt, wenig überraschend, vor allem die ukrainische Regierung selbst. Man müsse "ohne jegliches Zugeständnis oder jeden Kompromiss" weiterkämpfen, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj am Unabhängigkeitstag Ende August sagte.
Das ist auch die vorherrschende Ansicht in den Ländern an oder nahe der westlichen Grenze zu Russland, die sich von Moskau bedroht fühlen, etwa im Baltikum oder in Polen. Danach würde jedes Zugeständnis an Russland in Moskau als Schwäche und Ermunterung für weitere Invasionen ausgelegt.
Eine ähnliche Haltung nimmt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ein. In einem Interview mit der Deutschen Welle sagte er Mitte Oktober, die Ukraine müsse den Krieg "gewinnen". Er sagte allerdings nicht, was genau "gewinnen" bedeutet. Dazu sollten die NATO-Mitgliedsstaaten "soviel Unterstützung wie nötig und so lange wie nötig leisten". Nachgiebigkeit erteilte er indirekt eine Absage: "Wir dürfen nicht vergessen: Wenn Präsident Putins Russland die Kämpfe einstellt, gibt es Frieden. Wenn die Ukraine das Kämpfen einstellt, wird sie als unabhängiger Staat aufhören zu existieren."
In Deutschland gehört Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen zu denjenigen, die auf der Rückgabe aller von Russland eroberten ukrainischen Gebiete bestehen. Jede "Kompromissbereitschaft" sei eine "naive Haltung", die schon bei Russlands Annexion der Krim gescheitert sei, sagte sie Ende Oktober beim Berliner Forum Außenpolitik.
Auf Oppositionsseite teilt unter anderem der CDU-Außenpolitiker und ehemalige Bundeswehroberst Roderich Kiesewetter das Ziel der Ukraine, "alle besetzten Gebiete einschließlich der Krim zu befreien". Ob das erreichbar sei, hänge "im Wesentlichen vom Umfang, der Kontinuität und der Schnelligkeit der militärischen Unterstützung" des Westens, "von unserem Verhalten" ab, wie er der Deutschen Welle schreibt.
"Tabu" territoriale Zugeständnisse
Aber genau das ist nach einer anderen Denkschule unmöglich. Demnach könne Russland in der Ukraine militärisch nicht besiegt werden und habe notfalls immer noch die nukleare Karte im Ärmel.
Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Universität Halle spricht bei einer "vollständigen Befreiung der Ukraine" von "Maximalzielen", die er gegenüber der DW "unrealistisch" nennt, "denn sie würden entweder einen jahrelangen und opferreichen Abnutzungskrieg bedeuten oder zu einer am Ende nuklearen Eskalation führen".
Westliche Stimmen, die die Ukraine zu Kompromissen drängen, sind inzwischen rar, vor allem seit den erfolgreichen ukrainischen Militäroffensiven des Spätsommers. Dabei dürfte die Sorge eine Rolle spielen, mit pessimistischen Aussagen einerseits die ukrainische Kampfmoral und andererseits die Opferbereitschaft in den westlichen Gesellschaften zu untergraben.
Einige haben es trotzdem getan. Im Mai hatte der frühere US-Außenminister Henry Kissinger der Ukraine zu Gebietsabtretungen für einen Frieden mit Russland geraten, dies aber im Juli revidiert, als er genau dies ausschloss. In Deutschland hatte zum Beispiel der Philosoph Richard David Precht zu Beginn des Krieges territoriale Zugeständnisse gefordert, zuletzt vor allem, dass die Ukraine auf einen NATO-Beitritt verzichtet. Er und eine ganze Reihe weiterer Prominenter, darunter die Schriftstellerin Juli Zeh und der der General a.D. Erich Vad, hatten im Juli einen "konzertierten Vorstoß" für Verhandlungen für einen Frieden gefordert. Von politischer Seite drängen vor allem die rechtspopulistische AfD und die Linkspartei zu Friedensverhandlungen; der sächsische CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer ist eher eine Einzelstimme in seiner Partei.
Johannes Varwick beklagt: "Territoriale Veränderungen werden derzeit in der westlichen Politik zumindest öffentlich weitgehend tabuisiert und als Kapitulation vor russischer Aggression bezeichnet. Es wird aber - wenn man nicht auf die doch sehr vage Option eines Regimewechsels in Moskau hofft - der einzig denkbare Ausweg aus dieser Lage sein."
Kiesewetter meint dagegen, verfrühte Friedensverhandlungen mit Zugeständnissen an Russland wären "Makulatur und würden einen Sieg Russlands bedeuten".
Nach wie vor keine deutschen Kampfpanzer
Die Bundesregierung in Berlin überlässt es offiziell der Ukraine, ob und wann sie mit Russland verhandeln will und ob sie zu Zugeständnissen an Russland bereit wäre. Druck auf Kiew will sie nicht ausüben.
Allerdings tritt die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP in ihrer Ukraine-Politik nicht ganz einheitlich auf. Die ursprünglich pazifistischen Grünen haben sich in der Regierung als die größten Befürworter von mehr deutschen Waffenlieferungen erwiesen. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz anders denkt, sieht man schon daran, dass er der Ukraine bis heute die dringend geforderten deutschen Kampf- und Schützenpanzer verweigert.
Genau diese Zurückhaltung hält der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter für einen Fehler. Das sei "bitter für die Ukraine wie auch unsere Reputation in EU und NATO".
Johannes Varwick ist auch bei der Frage der Kampfpanzer anderer Meinung: "Deutschland sollte bei der Linie bleiben und in dieser Frage eher bremsen. Mir scheint da ein idealisiertes Bild militärischer Lösungen vorzuherrschen."
Die Osteuropaexpertin Lydia Wachs von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik wiederum hält die Fixierung auf einzelne Waffentypen für falsch: "Putin dürfte wohl kaum aufgrund der Lieferung eines bestimmten Waffensystems eskalieren, sondern vielmehr aufgrund der militärischen Gesamtsituation in der Ukraine und deren Implikationen für die eigene Regimestabilität."
Wachsender Verhandlungsdruck in Deutschland
Der ukrainische Präsident Selenskyj will den Kampf in jedem Fall "bis zum Ende" fortsetzen und hofft auf weitere Unterstützung aus dem Ausland. Aber wie stark diese Unterstützung ausfällt und wie lange sie anhält, ist auch eine Frage der Stimmung in den westlichen Gesellschaften. Diese leiden unter Energieknappheit und Inflation, teilweise als direkte Folge des Krieges; viele Städte können auch kaum noch ukrainische Flüchtlinge aufnehmen.
In Deutschland bröckelt die Unterstützung für die Russland-Sanktionen und die Waffenlieferungen an die Ukraine zwar nur langsam, wie auch der jüngste ARD-Deutschlandtrend von Anfang November zeigt. Aber eines hat sich gegenüber dem Sommer dramatisch verändert: 55 Prozent der Befragten finden jetzt, dass die diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Krieges "nicht weit genug" gehen – eine Steigerung von 14 Prozentpunkten gegenüber Juni. Bereits im Oktober hatten sich 26 Prozent dafür ausgesprochen, dass Deutschland sich verstärkt um eine diplomatische Lösung des Konflikts bemühen solle. Ein weiteres gutes Drittel (34 Prozent) antwortete mit "eher ja" - auch wenn das bedeuten könnte, dass die Ukraine Kompromisse mit Russland eingehen müsse.
Der Druck wächst auch in den USA, aus denen der weitaus größte Teil der westlichen Unterstützung für die Ukraine kommt. Und er wird vor allem dann zunehmen, wenn die Republikaner die Zwischenwahlen gewinnen sollten. Kevin McCarthy, der Fraktionsvorsitzende der Republikaner im Repräsentantenhaus, lieferte dafür einen Vorgeschmack, als er sagte: "Ich denke, dass die Leute nicht in einer Rezession stecken und der Ukraine einen Blankoscheck ausstellen wollen." Gleichzeitig legten 30 demokratische Abgeordnete Präsident Joseph Biden in einem Brief nahe, direkte Verhandlungen der USA mit Russland für ein rascheres Ende des Krieges zu beginnen.
Kiesewetter: Verhandlungen nur aus einer Position der Stärke
Roderich Kiesewetter hält Friedensverhandlungen aber nur dann für klug, "wenn die Ukraine militärisch in einer Situation der Stärke ist. Da ist sie bei weitem noch nicht." Den Zeitpunkt und mögliche Zugeständnisse solle die Ukraine selbst bestimmen. Er selbst sieht keinen Grund für territoriale Zugeständnisse oder einen NATO-Beitrittsverzicht. Andernfalls würde Russland für seinen Überfall auch noch "belohnt".
Lydia Wachs sieht den Westen vor allem angesichts der atomaren Drohungen Moskaus in einem "schwierigen Balanceakt": "Einerseits würde ein westliches Einknicken vor Moskaus nuklearen Erpressungsversuchen nicht nur ungeheuerliche humanitäre Auswirkungen nach sich ziehen, sondern auch Europa massiv destabilisieren. Andererseits könnte eine schnelle demütigende Niederlage Putins zu wachsenden Risiken einer Nukleareskalation führen."
Blick in die Zukunft
Im Moment ist ohnehin keine Seite zu Verhandlungen bereit: Die Ukraine hofft auf weitere Rückeroberungen, Russland setzt auf eine Zermürbungstaktik. Trotzdem macht man sich gerade auch in Deutschland Gedanken, wie es weitergehen könnte.
Für den CDU-Politiker Roderich Kiesewetter steht gerade für Deutschland sehr viel auf dem Spiel: "Wir müssen bereit sein, für unser Gesellschaftssystem, für Demokratie und Freiheit einen Preis zu zahlen. (…) Wir tun gut daran, die Ukraine mit aller Kraft viel besser zu unterstützen als bisher, sonst kommt der Krieg in einigen Jahren zu uns!"
Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick empfiehlt der Politik dies: "Solidarisch mit der Ukraine sein, aber zugleich nicht auf einen militärischen Sieg gegen Russland, sondern auf einen Interessenausgleich setzen." Dazu gehört für ihn die Möglichkeit eines "neutralen Status der Ukraine, der Russland erträglich ist und zugleich Sicherheitsgarantien für die Ukraine enthält". Auch werde es "territoriale Veränderungen in der Ukraine geben, die wir nicht völkerrechtlich anerkennen, aber doch einstweilen als modus vivendi akzeptieren sollten". Und schließlich sollten Sanktionen "als Gestaltungselement betrachtet werden, das heißt, sie sollten auch wieder aufhebbar sein und Russland die Rückkehr zu Geschäften mit dem Westen ermöglichen".
Seine Kollegin Lydia Wachs hält es durchaus für möglich, "dass wir in einen langen Krieg abgleiten. Dies würde nicht nur wachsende Opferzahlen mit sich bringen, sondern auch Russland in einen noch volatileren und gefährlicheren Nachbarn verwandeln und den europäischen Kontinent weiter sicherheitspolitisch und wirtschaftlich destabilisieren." Ihr Fazit: "Daher sollte der Westen die Ukraine jetzt so substanziell unterstützen, dass Moskau klar wird, dass ein Abwarten auf eine westliche Zermürbung sinnlos ist."