Mit dem Kleinbus in die Hölle
18. Mai 2022Erst nach dem letzten Checkpoint setzte die Angst ein. Mychailo Purishew hatte den Außenposten der ukrainischen Armee auf dem Weg nach Mariupol passiert, als ihm klar wurde, dass er nun tatsächlich im Kampfgebiet war: "Plötzlich sah ich den ganzen Horror des Kriegs", erinnert er sich. Er navigierte durch Anti-Fahrzeugminen, die auf der Straße lagen, fuhr an ausgebrannten Panzern und zerschossenen Dörfern vorbei. "Ich hatte in jeder Brusttasche je zwei Bibeln, ich betete und bat um Vergebung für meine Sünden. Aber die Angst ging nicht weg." Es war der 8. März. Der Kampf um die Stadt tobte, Bomben fielen. Und Mychailo fuhr mitten ins Inferno.
Mychailo Purishew ist keiner, der lange zögert. Der Geschäftsmann lebt in Kiew, doch er stammt aus Mariupol, wo er vor dem Krieg einen Club betrieb. Als die Stadt eingekesselt war, entschied er, hineinzufahren. "Ich wusste natürlich, dass dort gekämpft wird und dass dort sonst niemand hinfährt. Aber dort waren meine Mitarbeiter." Mit Freunden legte er Geld zusammen, um einen roten Kleinbus zu kaufen, und fuhr los. "Die Entscheidung fiel mir nicht schwer", erinnert er sich. "Ich wusste ja nicht, was mich erwartet."
"Wie ein helles Lagerfeuer"
Mychailo Purishew hat in seinem roten Bus mehr als hundert Menschen aus dem belagerten Mariupol herausgebracht, vielleicht sogar 200. Er hat nicht mitgezählt. Der Weg führte durch umkämpftes Gebiet, hinein in eine Stadt, die unter konstanter Bombardierung stand. "Aus der Ferne sah Mariupol aus wie ein gigantisches Lagerfeuer", sagt er. "Nach und nach brannte es immer heller. Und bei meiner letzten Fahrt war es erloschen. Nur noch Asche war übrig."
Mychailo ist in den Dreißigern, trägt Fünftagebart und Baseballcap. Wir treffen ihn in der Nähe seiner Wohnung in einer Neubausiedlung bei Kiew: ockerfarbene Mehrfamilienhäuser für die aufstrebende Mittelschicht, gepflegte Grünstreifen und Blumenrabatte. Dort kommt Mychailo mit seinem roten Bus um die Ecke gefahren. "Freiwilliger" prangt in großen weißen Lettern auf dem Fahrzeug, Motorhaube und Seitenwände haben zahlreiche Einschusslöcher, verursacht durch Granatsplitter oder Gewehrkugeln. Siebenmal war Mychailo mit dem Bus in Mariupol, er brachte Hilfsgüter in die Stadt und Menschen heraus. Wie durch ein Wunder hat keiner der Einschläge ihn oder einen Mitfahrer getroffen.
Flucht in den Freizeitclub
Als Mychailo Anfang März das erste Mal in Mariupol ankam, verschlimmerte sich die Lage in der Metropole bereits massiv. In den ersten Kriegstagen war Mariupol von den russischen Truppen umzingelt worden. Die ukrainische Armee verteidigte die Stadt, doch sie stand von drei Seiten unter Beschuss. Es gab keine Nachschublinien. So genannte Fluchtkorridore, begrenzte Waffenruhen, während der Zivilisten sicher aus der Stadt kommen sollten, wurden ein ums andere Mal vereinbart und wieder gebrochen. Wer aus der Stadt wollte, riskierte sein Leben. Wer blieb, auch.
Mychailo betrieb einen weitläufigen Freizeitclub im Keller eines Bürohauses. Im Evo-Game-Club gab einen Restaurantbereich, Tanzflächen, Karaokeräume und Plätze für Gamer. Jetzt diente er als Schutzbunker. Als er Anfang März ankam, lebten in den Räumlichkeiten 160 Menschen, in den darauffolgenden Tagen und Wochen wurden es immer mehr. "Wir holten vor allem Familien mit Kindern und Schwangere zu uns", sagt er. Denn seine Mitarbeiter hatten die Regie übernommen, um einigermaßen erträgliche Verhältnisse zu schaffen. "Wir organisierten uns. Wir hatten Läufer, die Essen auftreiben mussten und Wasserträger, die Wasser heranschafften. Und es gab einen Grill, auf dem wir kochen konnten. Wir haben gescherzt, dass wir in einem Fünf-Sterne-Bunker leben." Man sieht ihm seinen Stolz an, wenn er darüber spricht. Ein leichtes Lächeln kommt ihm ins Gesicht, seine Stimme wird weich. Auf einem Video, das er auf seinem Handy zeigt, sieht man Dutzende Menschen in Gruppen zusammensitzend, nur der Schein des Feuers erhellt ihre Gesichter. "Wie ist die Stimmung?", fragt Mychailo hinter der Kamera. "Hier herrscht Bombenstimmung", antwortet einer aus der Gruppe.
Die Grauen des Krieges
Tagelang fährt Mychailo durch die Stadt und verteilt die Hilfsgüter, er sieht mehr und mehr Elend. Einmal ist er auf der Straße. Er filmt gerade, als er ein Flugzeug hört und ruft, alle sollten schnell in den Keller laufen. Das Video läuft weiter. Man sieht ihn rennen, dann wird das Bild schwarz und man hört zwei Einschläge, hört schreiende Kinder. Zwei Minuten bleibt das Bild schwarz, dann ist der Angriff vorbei. Als er aus dem Keller auftaucht ist Rauch auf der Straße. Eine alte Frau liegt tot neben ihrem Auto. Man sieht, wie er sie gemeinsam mit ihrem Enkel über die Straße zerrt und auf dem Gehsteig ablegt. Der rote Bus steht direkt vor dem Eingang zum Keller. Vermutlich hat der Bus dafür gesorgt, dass in dem halboffenen Keller niemand verletzt ist. Er hat die Granatsplitter abgefangen. Eine Tür und die Windschutzscheibe sind herausgefallen. Im nächsten Video sieht man Mychailo, er spricht in die Kamera, kämpft mit den Tränen. "Hoffentlich schützt Gott die Kinder", sagt er in die Kamera. "Wenn ich sie schreien höre, treibt es mir die Tränen in die Augen."
Mychailo Purishew hat selbst vier Kinder. Seine größte Angst sei gewesen, unter den vielen Leichen, die in der Stadt herumlagen, den Körper eines Kindes zu sehen. Die ständige Bombardierung hatte zahlreiche Opfer gefordert. Viele blieben einfach am Straßenrand liegen. Niemand begrub sie, es war zu gefährlich geworden, sich so lange draußen aufzuhalten. "Wann immer ich Leichen am Straßenrand sah, habe ich die Augen abgewendet aus Angst, da könnte ein Kind dabei sein", erzählt er. "Ich glaube, ich wäre daran zerbrochen."
Videodokumente auf Telegram
Mychailo Purishew hat seine Reisen mit dem Handy dokumentiert: Die zerschossenen Straßen, das Leben im Keller, die verzweifelten Menschen, die den Bus umringen und um Essen anstehen. Es sind Videos, die er in einer Telegram-Gruppe an seine Freunde schickte, wenn er konnte. Lebenszeichen aus einer Stadt, aus der immer weniger Lebenszeichen kamen. Oft bricht die Verbindung ab. Tagelang postet er nichts. Dann füllt sich die Gruppe mit ängstlichen Nachfragen, bis jemand die erleichternde Nachricht schreibt: "Unser Held lebt. Er hat sich gemeldet."
"Es gab einen Ort, wo man gelegentlich ein Signal hatte", erzählt Jewhen Drjapohuz, einer seiner Mitarbeiter, der viele Wochen in dem Bunker saß und inzwischen in einem von Mychailos Konvois aus der Stadt gekommen ist. Alle paar Tage sei er dort hingelaufen. Er sei gerannt, um möglichst wenig Zeit draußen zu verbringen. 15 Minuten dauerte ein Weg. Dann habe seine Mutter angerufen, die bereits ins Ausland geflohen war. "Ich sagte zwei Worte: Ich lebe. Dann legte ich auf und rannte zurück". Denn jede Minute draußen erhöhte die Gefahr, getroffen zu werden.
Trotzdem sieht man Mychailo meist fröhlich auf den Videos, die er an seine Freunde schickt. Man sieht eine Gruppe Männer, die ihren Oberkörper mit Schnee abreiben. "Es hat geschneit, heute können wir uns waschen", ruft er in die Handykamera, als würde er einen Abenteuer-Urlaub anpreisen. "Meine Aufgabe war es, den Menschen Hoffnung zu geben", sagt er. Erst abends habe er sich ein wenig Schwäche erlaubt. "Dann kamen die Gefühle hoch. Ich zog mich in eine Ecke im Bunker zurück, damit niemand sah, dass Mychailo Purishew weint."
Einfache Menschen als Lebensretter
Mychailo Purishew fuhr insgesamt sechsmal in die brennende Stadt und brachte das Überlebensnotwenige vorbei: Büchsenfleisch, Gemüsekonserven, Medikamente. Auf dem Rückweg nahm er Menschen mit heraus. Bald schlossen sich andere Freiwillge an, sie fuhren Kolonne - eine Reihe weißer Busse folgt dem roten Bus, den Mychailo inzwischen "Volonter", "Freiwilliger", getauft hat. Freiwillige wie er hätten Tausende aus der Stadt gebracht, sagt er. Rund zwanzig seiner Mitstreiter seien von ihren Fahrten nicht zurückgekommen. Sie fuhren auf Minen, gerieten ins Kreuzfeuer, wurden verhaftet. "Das waren Menschen, die gesagt haben: Jemand muss es tun und dann einfach losgefahren sind. Es waren einfache Ukrainer, einfache Menschen."