Unerreichbares Kriegsziel Krim?
10. August 2022"Der Krieg begann auf der Krim - und er wird auch dort enden.“ Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ließ in seiner wöchentlichen Videoansprache keinen Zweifel daran, dass er nicht gewillt ist, die bereits 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektierte Halbinsel aufzugeben. Kurz zuvor war es auf einem russischen Luftwaffenstützpunkt bei Nowofedoriwka im Westen der Halbinsel zu mehreren schweren Detonationen gekommen.
Die Vermutung liegt nahe, dass es sich dabei um einen gezielten Angriff der Ukraine gehandelt hat, auch wenn es bislang keine offizielle Bestätigung dafür gibt und Kiew jede Verantwortung für die Detonationen von sich weist. Es wäre der erste militärische Angriff auf die Halbinsel seit ihrer Annexion vor acht Jahren und symbolisch ein ähnlich schwerer Schlag wie die Versenkung der "Moskwa", des russischen Flaggschiffes der Schwarzmeerflotte, Mitte April. Womöglich deshalb bemühte sich das russische Verteidigungsministerium auch darum, nicht von einem ukrainischen Angriff zu sprechen. Der Darstellung aus Moskau zufolge sei lediglich "durch fahrlässiges Verhalten“ Munition auf dem Gelände explodiert.
Gefahr der weiteren Eskalation
Tatsächlich hätte eine Bombardierung von Zielen auf der Krim für Russland eine andere Bedeutung als der Krieg im Donbass oder dem Rest der Ukraine. Denn Moskau betrachtet die bereits 2014 annektierte Halbinsel als ureigenstes Staatsgebiet und nach einem international nicht anerkannten Referendum als Teil der Russischen Föderation. Nach russischer Lesart würde der Krieg somit auf russisches Territorium ausgeweitet - womit eine weitere Eskalation des Krieges drohen würde.
Allerdings betrachtet auch die Ukraine die Krim weiter als ihr Staatsgebiet. "Wir werden alle unsere Gebiete befreien, wirklich alle, auch die Krim", sagte der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow Mitte Juni gegenüber dem US-Sender CNN - auch wenn es zunächst einmal "das realistische Minimum" sei, "dass die russischen Kräfte sich an die Grenzen zurückziehen, die vor dem 24. Februar gültig waren", wie sein Berater Jurij Sak verlauten ließ.
Seit jeher umstritten
Für Moskau hat die Krim eine noch höhere Wertigkeit als der Rest der Ukraine. Mehr als zwei Jahrhunderte lang gehörte die Krim zu Russland. Bereits im 18. und 19. Jahrhundert siedelten die Zaren dort vermehrt ethnische Russen an. Stalin setzte diese Politik fort. Erst im Jahr 1954 wurde die Krim unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen - möglicherweise auf Anordnung des damaligen KPdSU-Generalsekretärs Nikita Chruschtschow - der Ukrainischen SSR zugeschlagen.
Nach dem Zerfall der UdSSR blieb die Krim offiziell ukrainisches Staatsgebiet, trotz eines Bevölkerungsanteils von rund 60 Prozent ethnischer Russen bei nur rund 40 Prozent Ukrainern und Krimtataren. So gewährte Kiew der Halbinsel einen Autonomiestatus - und schloss mit Russland Pachtverträge ab - etwa über den strategisch bedeutsamen Hafen in Sewastopol.
Dort hatte sich schon zu Sowjetzeiten das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte befunden - außerdem ist Sewastopol der einzige bedeutsame russisch genutzte Hafen überhaupt, der das ganze Jahr über sicher eisfrei bleibt. Militärisch bot er Zugang zum Schwarzen Meer, wirtschaftlich kamen durch ihn viele wichtige Waren ins Land.
Bis ins Jahr 2014 stellte diese Übereinkunft zwischen der Ukraine und Russland auch kein größeres Problem dar. Doch dann wollte der damalige Präsident Janukowitsch ein angedachtes Assoziierungsabkommen mit der EU platzen lassen. Proeuropäische Proteste in Kiew waren die Folge. Im Zuge des sogenannten "Euromaidan" wurde Janukowitsch gestürzt und musste nach Russland fliehen.
Im Kreml sah man die Gefahr, durch eine Hinwendung der Ukraine zum Westen und insbesondere zur NATO Sewastopol und die gesamte Krim langfristig an das westliche Verteidigungsbündnis zu verlieren - und entschloss sich zur völkerrechtswidrigen Annexion, die noch im selben Jahr durch das umstrittene Referendum legitimiert werden sollte. Bei diesem Referendum sprachen sich angeblich über 90 Prozent der Teilnehmenden für eine Loslösung von Kiew aus. Die Durchführung des - international nicht anerkannten - Referendums erwies sich jedoch als chaotisch und fand ohne glaubwürdige internationale Beobachter statt. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Zahlen daher nicht. Ein später durchgesickerter Bericht des Menschenrechtsrates des russischen Präsidenten bezifferte die Wahlbeteiligung auf nur rund 30 Prozent.
Fragile Anbindung
Die Annexion der Krim versucht Russland im nun aufgeflammten Krieg weiter zu verfestigen. Neben der Eroberung des Donbass erklärte der Kreml die Schaffung eines russisch besetzten Landkorridors von dort aus zur Krim zu einem seiner wichtigsten Kriegsziele. Bereits kurz nach der Annexion der Halbinsel im Jahr 2014 baute Moskau eine millionenschwere Krim-Brücke, die sowohl eine vierspurige Autobahn als auch eine parallel dazu verlaufende Zugverbindung beherbergt. Seit 2018 verbindet sie die im äußersten Osten der Krim gelegene Stadt Kertsch mit der russischen Halbinsel Taman.
Tatsächlich war die Halbinsel ohne diese Brücke von russischem Territorium aus bislang nicht über Land zu erreichen. Jegliche Versorgung der rund 2,3 Millionen Einwohner fand bislang vom Meer aus oder über die Brücke statt. Dabei hat sich die Bevölkerungszusammensetzung der Krim in den letzten acht Jahren stark verändert. Eine große Zahl ethnischer Ukrainer und Krimtataren hat sie seit 2014 verlassen. Mehr als 130.000 Russen sind seitdem neu auf die Halbinsel gezogen.
Mit zusätzlichen Eroberungen in der Südukraine würde Putin zudem weitere Fakten schaffen: Eine Rückkehr zum Status vor der Annexion würde quasi unmöglich werden. Die Ukraine wäre völlig vom Zugang zum Asowschen Meer abgeschnitten und da die Krim wie ein riesiger Keil in das Schwarze Meer hineinragt, würde Russland auch jeglichen Schiffsverkehr in Richtung des letzten verbliebenen ukrainischen Schwarzmeerhafens Odessa kontrollieren und unterbinden können.
Realistische Rückkehr?
In der Ukraine herrscht indes Unklarheit darüber, wie weit man gehen würde, um auch die Krim wieder unter ukrainische Kontrolle zu bringen. Die Rückgabe der Halbinsel sei "eine Frage, die diplomatisch verhandelt werden muss", so Regierungsberater Sak. Militärisch, das ist wohl auch Präsident Selenskyj klar, gilt eine Rückeroberung selbst unter besseren Vorzeichen als derzeit quasi als unmöglich: "Ich denke, dass das auf unserer Seite hunderttausende Verluste bedeuten würde", erklärte Selenskyj noch vor kurzem gegenüber dem US-amerikanischen Nachrichtenportal "Axios".
Wie eine mögliche Rückgabe allerdings auf dem Verhandlungswege erzielt werden soll, ist bislang völlig unklar. Aufgrund der derzeitigen Kräfteverhältnisse, der strategischen Bedeutung der Krim, aber auch aufgrund der Bevölkerungszusammensetzung erscheint sie zum jetzigen Zeitpunkt allerdings ziemlich unwahrscheinlich.
Dieser Artikel erschien zuerst am 16. Juni. Wir haben ihn am 11. August aktualisiert und um weitere Informationen zur Geschichte und zur ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung der Krim ergänzt.