Ukraine: Verunsicherung trotz Getreidekorridor
22. August 2022Rund 30 Schiffe haben die größten ukrainischen Häfen im Schwarzen Meer seit dem 22. Juli verlassen. An diesem Tag wurde in Istanbul unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei ein Abkommen unterzeichnet, das die Getreideexporte aus der Ukraine nach monatelanger Blockade durch russische Kriegsschiffe und ukrainische Seeminen wieder ermöglichen soll.
Eines der ersten ausgelaufenen Schiffe wurde von den UN gefrachtet, um 23.000 Tonnen Weizen an hungernde Menschen in Äthiopien zu liefern. Insgesamt fanden mehr als 600.000 Tonnen Getreide ihren Weg auf den Weltmarkt, so die Zwischenbilanz der staatlichen Seehafenverwaltung der Ukraine.
Die Pläne der Hafenbehörde sind ambitioniert: Schon bald sollen monatlich 100 Schiffe die ukrainischen Häfen Odessa, Piwdenny und Tschornomorsk verlassen. Doch davon ist man noch meilenweit entfernt.
Reedereien zögern
Ein Großteil der Schiffe, die in den ersten Wochen nach dem Getreidedeal ausgelaufen sind, waren zuvor monatelang blockiert. Neue Frachter kommen ab Mitte August nach und nach in die Häfen im Großraum Odessa.
"Es läuft es sehr schleppend an", sagt Pawlo Martyschew von der Kyiv School of Economics (KSE) im Gespräch mit der DW. "Die Marktteilnehmer trauen den Russen nicht so richtig und rechnen mit Überraschungen", so Martyschew in Anspielung auf den russischen Raketenbeschuss des Hafens von Odessa nur einen Tag nach Unterzeichnung des Abkommens.
In einer Analyse für die KSE schätzte Martyschew Anfang August das zusätzliche Exportpotenzial dank des Abkommens von Istanbul noch optimistisch auf mehr als fünf Milliarden US-Dollar ein - wichtige Devisen für die kriegsgebeutelte Ukraine und die Bauern des Landes. Doch die Realität zeichnet bisher ein anderes Bild. "Frachtkosten variieren stark, oft innerhalb eines Tages. Der Markt ist nervös. Mal gibt es Berichte über russischen Raketenbeschuss der Region Odessa, mal des Hafens von Mykolajiw, mal überfliegen russische Jäger den entmilitarisierten Seekorridor, der für die sichere Passage von Frachtern vorgesehen ist", sagt Martyschew.
Saftige Risikoprämien
Gennedij Ivanov, Geschäftsführer des Logistikunternehmens BPG Shipping, weiß genau, was es heißt, Güter unter Kriegsbedingungen zu befördern. Mehr als zehn Jahre lang hat sein Unternehmen Frachtschifffahrten Richtung Jemen organisiert. Nun muss Ivanov Reeder überzeugen, trotz aller Risiken seine Heimatstadt Odessa anzulaufen. "Es gibt nur wenige Reeder, die systematisch in potenziell gefährlichen Regionen wie Westafrika oder Jemen arbeiten und bereit sind, auch die Ukraine zu bedienen, weil sie wissen, dass es Risikoprämien gibt. Das heißt letztlich, dass die Frachtkosten wesentlich höher sind als in den benachbarten, 'friedlichen' Ländern Rumänien oder Bulgarien", erklärt Ivanov gegenüber der DW.
Der Seefrachtspezialist ist zuversichtlich: Je länger der Exportkorridor ohne Zwischenfälle funktionieren wird, desto mehr Reeder werden sich in die Ukraine trauen. "Als das Getreideabkommen unterzeichnet wurde, erwarteten Versicherungsunternehmen Prämien von vier bis fünf Prozent des Verkehrswerts der Schiffe für den Zeitraum von sieben Tagen. Heute sind es ein bis eineinhalb Prozent, was immer noch im Schnitt 200.000 bis 270.000 US-Dollar pro Woche kostet", so Ivanov.
"Die Russen verdrängten ukrainischen Weizen"
Der Frachtmanager rechnet vor: Ein Schiff für die Getreideausfuhr aus der Ukraine zu mieten, kostet rund 10.000 US-Dollar pro Tag mehr, als man beispielsweise im benachbarten Rumänien bezahlt. Aufwendige Sicherheitskontrollen in Istanbul führen außerdem dazu, dass die Reeder den ukrainischen Kunden zusätzliche sieben bis neun Tage in Rechnung stellen.
Es war eine Bedingung der Russen bei den Verhandlungen: Jedes Schiff soll sowohl auf dem Weg in die Ukraine als auch auf dem Rückweg von türkischen Militärs durchsucht werden, um etwaige Waffenlieferungen per Schiff zu verhindern. "All das führt dazu, dass eine Tonne Fracht aus den Häfen der Ukraine 25 bis 35 US-Dollar mehr kostet als aus Rumänien", betont Ivanov.
Diese Kosten mindern die Rendite der Exporteure und führen zu Abzügen bei den Einkaufspreisen für ukrainische Bauern. Das ist ein Vorteil für den wichtigsten Rivalen auf den Getreidemärkten: Russland - auch wenn Risikozuschläge für russische Häfen seit dem Kriegsausbruch ebenfalls etwas gestiegen sind.
"Russland erwartet dieses Jahr eine Rekordernte von über 90 Millionen Tonnen Weizen. Unter diesen Umständen wird russischer Weizen den Markt dominieren. Die Russen können Rabatte geben, sie verdrängten bereits ukrainischen Weizen von den wichtigsten Märkten, wie der Türkei oder Ägyptens", so Pawlo Martyschew. Ähnliches gelte für Sonnenblumenöl. "Viele Fabriken stehen seit Kriegsanfang still, und statt Sonnenblumenöl, exportiert die Ukraine nun unverarbeitete Sonnenblumensaaten, was deutlich weniger Devisen einbringt".
Wohin mit Millionen Tonnen von Getreide?
Noch immer stecken nach Expertenschätzungen rund 18 Millionen Tonnen Getreide in ukrainischen Silos fest. Insbesondere für die Bauern, die Mais anbauen, wird es eng. "Im September/Oktober ist die neue Ernte da, und wenn die Exporte nicht drastisch beschleunigt werden, werden Speicherkapazitäten für rund 10 Millionen Tonnen Mais fehlen", warnt Martyschew und fordert internationale Unterstützung, etwa in Form günstiger Kredite insbesondere für kleinere Agrarbetriebe, um provisorische Silos zu bauen, und bei der nächsten Saat den Bauern unter die Arme zu greifen.
Heinz Strubenhoff war langjähriger Agrarexperte der Weltbank in der Ukraine. Heute arbeitet er als unabhängiger Experte. Ihm zufolge wird das Getreideabkommen von Istanbul erst dann spürbare Ergebnisse bringen, wenn internationale Partner der Ukraine helfen, die Risikoprämien der Frachtversicherung zu stemmen. "Russland hat ein Interesse daran, dass weiter Unsicherheit herrscht und die Versicherungsprämien hoch bleiben. Die EU und die USA müssten ein Interesse daran haben, die Ukraine bei den Kosten der Rückversicherung der Risiken zu unterstützen und so die Exporte wieder konkurrenzfähig zu machen", meint der Agrarexperte.
Wenn die Wirtschaftlichkeit der Getreideexporte infrage stehe, könnte das viele Bauern in der Ukraine zwingen, mehr Raps oder Sonnenblumen anzubauen, fürchtet Strubenhoff. Damit wäre für die Ernährungssicherheit, die international im Fokus der Bemühungen um ein Getreideabkommen für die Ukraine stand, mittelfristig nichts gewonnen, warnt der Experte.
Dieser Artikel wurde am 22. August 2022 aktualisiert.