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PolitikEuropa

Ukrainische Drohnen gegen Russlands Krieg

9. Dezember 2022

Moskau spielt die Folgen der ukrainischen Luftangriffe auf seine Militärflugplätze herunter. Doch auch wenn es nur kleine Stiche sind, senden sie wichtige Signale für den weiteren Kriegsverlauf.

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Satellitenaufnahme Russland Luftwaffenbasis Engels
Von ukrainischen Drohnen getroffen - oder nicht? Satellitenaufnahme der Luftwaffenbasis Engels vor dem AngriffBild: MAXAR/REUTERS

"Selbst Moskau ist nicht mehr sicher!" Was bei vielen patriotischen russischen Bloggern und kremltreuen Scharfmachern im Netz bisher Kriegslust war, schlägt zunehmend in Wut und Verunsicherung um. Engels und Djagilewo sind in sozialen Medien die Codewörter für die neue Ratlosigkeit in Russland. So heißen zwei Militärflugplätze, die am 5. Dezember von starken Explosionen erschüttert wurden. Es sind die größten Stützpunkte für die Langstreckenbomber eines Landes, das Wladimir Putin als Supermacht sieht. Zum ersten Mal nach mehr als neun Monaten Krieg trafen ukrainische Kampfdrohnen derart strategische Ziele weit im russischen Hinterland. 

Symbolischer könnte der Schlag der Ukrainer nicht sein. Denn die Bomber aus Engels und Djagilewo werden regelmäßig mit Dutzenden Marschflugkörpern bestückt, um sie auf zivile Ziele in der Ukraine abzuschießen, meist auf kritische Infrastrukturobjekte der Strom- und Wärmeversorgung.

Verwirrspiel um ukrainische Luftschläge

Auch wenn die Ukraine, im Gegenteil zu Russland, bisher ausschließlich militärische Ziele im Nachbarland ins Visier nahm, wird nach diesen Schlägen deutlich, dass nun tatsächlich auch die russische Hauptstadt in Reichweite der Ukrainer liegt. Mit 500 bzw. weit über 600 Kilometern sind die beiden Militärflugplätze sogar weiter von der ukrainischen Grenze entfernt als der Kreml. Viele Experten sind überrascht. "Dass die russische Flugabwehr nicht reagiert hat, ist erstaunlich - womöglich rechnen die Russen immer noch nicht mit solchen Angriffen in der Tiefe des russischen Territoriums", so der Politikwissenschaftler Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr gegenüber der DW.

Satellitenaufnahme Russland Luftwaffenbasis Engels
Von hier starten regelmäßig Bomber Richtung Ukraine: Russland Luftwaffenbasis EngelsBild: MAXAR/REUTERS

Das russische Verteidigungsministerium beteuert zwar, die Drohnen abgeschossen zu haben. Zwei Bomber seien angeblich durch Trümmerteile der getroffenen Drohnen beschädigt worden. Dagegen sprechen allerdings mehrere im Netz veröffentlichte Videos privater Überwachungskameras aus der Nähe des Flugplatzes in Engels. In der Morgendämmerung ist klar zu sehen, dass es keine Explosion im Himmel gab, sondern nur eine starke Detonation nach Einschlag auf dem Boden.

Rätselhafte Drohnen

Auch fünf Tage später rätseln Militärexperten darüber, womit genau die russischen Flugplätze getroffen wurden. Das Verteidigungsministerium in Moskau spricht von einer "Drohne sowjetischer Bauart". Experten vermuten, es könnte eine modernisierte und mit Sprengstoff bestückte Version von Tu-141 sein - einer alten Aufklärungsdrohne aus der UdSSR der siebziger Jahre. "Die Leistung dabei ist, das alte Fluggerät zielgenau über die Distanz ins Ziel zu bringen", so Frank Sauer. Er erinnert daran, dass im März, kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, eine Tu-141 sich bis nach Kroatien verirrte und in der Hauptstadt Zagreb einschlug.

Auch für Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations kommt eine mit modernster Navigationstechnik nachgerüstete Tu-141 in Frage. Allerdings bleibt die Sicherheitsexpertin bei der Behauptung aus Moskau skeptisch, solange es keine Aufnahmen von Trümmern der Drohne gibt. "Es kann natürlich sein, dass Russland behauptet, es wäre eine sowjetische Drohne, einfach um zu zeigen, dass die Ukrainer nicht im Stande seien, eine eigene Drohne zu entwickeln."

Ukraine: Mühsame Reise über die Frontlinie

Kampfdrohnen zu bauen sei kein technologisches Hexenwerk, so Franke gegenüber der DW. "Es kann durchaus sein, dass die Ukrainer eine solche Drohne im Krieg entwickelt haben. In diesem Krieg agiert die Ukraine immer wieder innovativ." Die Sicherheitsexpertin erinnert an ukrainische Angriffe auf russische Kriegsschiffe mit Wasserdrohnen, aber auch auf den pfiffigen Einsatz von türkischen Bayraktar-Drohnen zur Ablenkung der Radarsysteme der russischen Kriegsflotte, um sie dann mit gelenkten Raketen vom Boden aus zu treffen.

Kiew: Dutzende neue Drohnentypen

Das ukrainische Verteidigungsministerium hält sich bezüglich eigener Drohnenentwicklungen bedeckt. Minister Olexij Resnikow machte in einem Facebook-Post vom 8. Dezember jedoch deutlich, dass Kiew großen Wert auf Innovationen legt: "Früher bekamen ein bis zwei neuen Drohnenarten pro Jahr eine Zulassung für unsere Streitkräfte. Jetzt haben wir innerhalb der vergangenen 30 Tage sieben neue ukrainische Drohnentypen zugelassen."

The "New York Times" berichtete nach dem Angriff auf russische Militärflugplätze unter Berufung auf Sicherheitskreise in Kiew, für die Schläge seien neuentwickelte ukrainische Kampfdrohnen verwendet worden. Diese seien in einer öffentlich-privaten Partnerschaft mit ukrainischen Unternehmen aus dem zivilen Sektor gebaut worden.

Seit Russland mit Kamikazedrohnen und Marschflugkörpern gezielt ukrainische Infrastruktur zerstört, hatten mehrere private Initiativen zu Spenden "für Racheakte" aufgerufen. So sammelte beispielsweise der Showstar Serhij Prytula im Oktober Spenden, um damit Kamikazedrohnen  für Vergeltungsschläge in Russland zu finanzieren. Innerhalb weniger Tage gingen umgerechnet fast zehn Millionen Euro auf dem Spendenkonto ein.

Der ukrainische Militärexperte Oleg Katkov glaubt dennoch nicht, dass die Ukraine über serienreife Kamikazedrohnen verfügt. Bisher fokussierten ukrainische Entwickler vor allem Aufklärungsdrohnen. "Auf den Überwachungsvideos aus Engels ist ein Geräusch zu hören, das typisch für ein Düsentriebwerk ist, wie bei der Tu-141", so Katkov im Gespräch mit der DW. "Ich gehe aber davon aus, dass ukrainische Neuentwicklungen mit Propellern betrieben werden."

Schlüsselrolle für die Gegenoffensive

Ob neu oder modernisiert - Experten sind sich einig, dass die ukrainischen Drohnenangriffe im russischen Hinterland mehr als nur symbolische Bedeutung haben. "Die Russen müssen nun ihre Flugverteidigung umdisponieren, möglicherweise Systeme aus dem Kriegsgebiet abziehen", so Oleg Katkov. "Oder aber sie verlegen ihre Bomber noch weiter ins Hinterland, was aber künftige Raketenangriffe aufwändiger macht und mehr Verschleiß für Russlands alte Sowjetbomber bedeutet."

Ulrike Franke sieht die spektakulären ukrainischen Angriffe auch als Signal an westliche Partner, die sich bisher weigerten, der Ukraine Waffensysteme mit großer Reichweite zu liefern. Kiew fordert seit langem insbesondere High-Tech-Munition aus den USA für bereits gelieferte HIMARS-Raketenwerfer. Ferngesteuerte HIMARS-Raketen können Ziele in einer Entfernung von bis zu 300 Kilometern treffen. Bisher lieferte Washington lediglich Raketen mit einer Reichweite von 80 Kilometern. Waffensysteme mit höherer Reichweite, so die Militärexperten, spielen eine Schlüsselrolle bei der ukrainischen Gegenoffensive.

"Aus Angst vor einer Eskalation will man vermeiden, dass mit westlichen Systemen auf russischem Territorium angegriffen wird", so Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations. "Nun zeigen die Ukrainer, dass sie solche Angriffe auch ohne westliche Systeme erledigen können."