Der Gipfel der Merkel-Kritik
13. November 2015Am Sonntag wird Angela Merkel zusammen mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) zum G20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs ins türkische Antalya reisen. Dort werden beide mit ihren Amtskollegen aus 19 weiteren Industrie- und Schwellenländern Antworten auf die aktuelle Flüchtlingskrise im Nahen Osten und in Europa suchen. Dass Merkel und ihr Finanzminister zuletzt immer unterschiedlichere Antworten im Umgang mit den Flüchtlingen fanden, dürfte hierbei wenig hilfreich sein.
Zudem setzt der wachsende Widerstand in der eigenen Partei gegen Merkels Credo "Wir schaffen das" die Kanzlerin unter Zugzwang. Immer mehr Unions-Abgeordnete fordern ein Ende der Politik offener Grenzen. Symbolisch beschließen will das beispielsweise der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU bei seinem Treffen am Samstag in Dresden. So fordert die Mittelstandsvereinigung der Union (MIT), ankommende Flüchtlinge notfalls auch an der deutschen Grenze zurückzuweisen.
Eine Forderung, auf die die Kanzlerin auch in ihrem großen TV-Interview am Abend im ZDF eingehen dürfte. Noch nie musste sie mit so massivem Widerstand gegen ihre politische Führung umgehen. Noch scheint sie dies – zumindest äußerlich – unberührt zu lassen.
Nationale Lösungen greifen zu kurz
Merkel setzt vor allem darauf, die in der Flüchtlingsfrage bislang heillos zerstrittenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf ihren Kurs einzuschwören. Sie sollen "zusammenrücken und Verantwortung gemeinsam teilen", sagte sie am Rande des EU-Afrika-Gipfels in Malta diese Woche. Auf einen gemeinsamen Aktionsplan konnten sich EU-Staaten und die vertretenen Staatschefs Afrikas dort einigen. Ambitionierte Ziele bei der Bekämpfung von Fluchtursachen und bei der Bekämpfung von Schlepper-Kriminalität wurden definiert.
Weniger ambitioniert war da schon die finanzielle Untermauerung der Versprechen – gemessen an der tatsächlichen Dimension der Aufgaben. 1,8 Milliarden Euro sind für einen EU-Migrationsfonds zugesagt. Ziel ist es beispielsweise, die Kontrolle über die Meeresenge zwischen der Türkei und Griechenland wieder herzustellen, so Merkel: "Die schmale See ist in der Hand von Schleppern und Schmugglern."
Auch die zweite Runde der am Samstag in Wien beginnenden Syrien-Konferenz sieht die Kanzlerin als wichtigen Baustein, um den Flüchtlingszustrom hierzulande einzudämmen. Dass dieses "umfassende Format" stattfinde, sei ein Erfolg, so die Kanzlerin. Dass dieses Treffen nur ein "kleiner Schritt" auf einer tatsächlichen Friedenslösung für den Bürgerkrieg in Syrien sein könne, daraus machte sie am Freitag in Berlin aber auch keinen Hehl. Schnelle Lösungen, so scheint es, hat Merkel derzeit nicht anzubieten.
Restriktionen gewinnen an Zuspruch
Das spiegelt sich auch in Meinungsumfragen wieder – denn die Kritik und die Ungeduld über Merkels Kurs wächst. In dem am Freitag veröffentlichten ZDF-Politbarometer, einem der wichtigsten politischen Stimmungstests in Deutschland, beurteilte eine Mehrheit der Befragten Merkels Flüchtlingspolitik als schlecht. 52 Prozent der Befragten lehnen ihre "Willkommenskultur" für Flüchtlinge ab, 43 Prozent hielten diese für angemessen. Für diese Umfrage wurden 1262 Wahlberechtigte befragt.
Überraschend hoch ist die Anzahl derer, die die Grenze des Machbaren gekommen sehen. Jeder zweite Deutsche ist demnach überzeugt, dass das Land keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen könne. 47 Prozent der Befragten lehnen solche Aussagen ab. Wenig verwunderlich, dass in dieser Stimmungslage all jene Politiker Zuspruch bekommen, die eine schärfere Gangart im Umgang mit der Flüchtlingsbewegung versprechen.
Ärger in der Koalition
Bundesinnenminister Thomas de Maizière, dessen bisheriges Agieren in der Flüchtlingskrise seine Umfragewerte abstürzen ließ, wird inzwischen wieder besser bewertet. 45 Prozent der Befragten hielten seine Arbeit für gut – wenige Wochen zuvor waren es nur 34 Prozent. Der Innenminister hatte sich zuletzt dafür stark gemacht, auch für syrische Asylbewerber die Einzelfallprüfung wieder einzuführen und so weit wie möglich den Familiennachzug für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge einzuschränken.
Das hatte insbesondere im Verhältnis zum kleineren Regierungspartner SPD für mächtigen Ärger gesorgt. SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel rief die Unionsparteien am Freitag in Dortmund dazu auf, ihren Streit in der Asylpolitik beizulegen. Die Instrumente, um die Geschwindigkeit des Zuzugs von Flüchtlingen zu reduzieren, lägen in der internationalen Politik - "und nicht im deutschen Asylverfahrensrecht".
Merkel: "Ein Schritt auf dem Weg zu einer fairen Lastenteilung"
Bereits kommende Woche will die Kanzlerin mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann in Berlin zusammenkommen, um über den nach wie vor ungebremsten Zustrom von Flüchtlingen an der deutsch-österreichischen Grenze zu sprechen. Insbesondere bayrische Politiker hatten das Nachbarland zuletzt scharf kritisiert. Österreichs Politik unternehme alles, um die Flüchtlinge möglichst schnell nach Deutschland weiterzuschicken, hieß es.
Wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am Freitag bestätigte, ist es nach der Wiederinkraftsetzung der sogenannten Dublin-Regeln für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge jetzt "selbstverständlich möglich, dass Rücküberstellungen nach Österreich stattfinden". Nach dem europäischen Dublin-Abkommen sollen Asylverfahren innerhalb der Europäischen Union in dem Land durchgeführt werden, in dem ein Flüchtling erstmals registriert wurde.
Merkel stellt sich hinter de Maizère
Aufgrund der massiven Überlastung von Ländern wie Griechenland und Italien wurde diese Regelung aber bereits seit Wochen von Europas Politikern ignoriert, um die massiv angestiegene Zahl der Asylverfahren zu vereinfachen. Erst am Dienstag hatte das Bundesinnenministerium dann aber mitgeteilt, die Dublin-Regeln – auch mit der Möglichkeit einer Rücksendung von Flüchtlingen in benachbarte EU-Länder – würden wieder in Kraft gesetzt.
Merkel stellte sich am Freitag auf einer Pressekonferenz demonstrativ hinter diese Entscheidung des Innenministers: "Ich finde es deshalb richtig, weil wir uns einem Verteilmechanismus in Europa nähern wollen. Wir brauchen eine faire Lastenteilung."
Umfragen: Kein Kanzlerinnen-Sturz in Sicht
Doch bis eine solche faire Lastenverteilung unter den EU-Staaten erreicht ist, wird es noch Geduld brauchen. Davon ist auch die Kanzlerin überzeugt. Das legt den Schluss nahe, dass die Kritik an ihrer Person und die Schärfe der Auseinandersetzung in den kommenden Tagen noch zunehmen dürften. Gut für die Kanzlerin, dass sie eines nicht befürchten muss: Laut ZDF-Politbarometer gehen 79 Prozent der Befragten nicht davon aus, dass Merkel ihr Amt wegen der Querelen um den richtigen Kurs in der Flüchtlingspolitik verlieren könnte. Nur 19 Prozent erwarten genau das. Bislang scheint Merkels Kalkül – glaubt man diesen Umfragen – aufzugehen.