Umgang mit Migranten spaltet Davos
20. Januar 2016Machtverlust, Verunsicherung durch willkürliche Aggression und Gewalt, und schlichtweg Angst – so beschreiben WEF-Teilnehmer und Journalisten ihre Erfahrung im "refugee-run". Sie sitzen im Kreis, eingeschüchtert und weitgehend still. Viele haben die vergangenen 45 Minuten mitgenommen. "A day in the life of a refugee" ist eine Simulation. Sie soll den Entscheidern und Wirtschaftsbossen in Davos zeigen, was Flüchtlinge durchmachen, ehe sie in Europa ankommen.
Die Mächtigen sollen die Ohnmacht eines Flüchtlings erleben
Durch eine schwere Holztür betreten die Teilnehmer eine für sie fremde Welt. Jeder erhält eine neue Identität, eine Rolle und eine Familie. Doch ehe die Familien Zeit haben, sich zu finden, kommt die erschreckende Botschaft: Die Heimat ist nicht mehr sicher. Alle müssen fliehen – unter Beschuss und nur mit den Klamotten am Leib, ihren Dokumenten und mit Glück ein wenig Geld.
Kugelhagel und Geschrei begleiten die Flucht, raus aus der Stadt und über die Grenze bis in ein Flüchtlingscamp. Hier beginnt der Psychoterror. Frauen und Männer werden hektisch zusammen in Zelten verteilt – dabei ist für Frauen im Islam der Kontakt mit Männern außerhalb der Familie unsittlich.
Soldaten rufen wilde Kommandos durcheinander: "Schlafen! Raus aus dem Zelt! Warum machst du Ärger, du sollst schlafen!" All das Gleichzeitig. Doch schlafen kann niemand. Jemand wird aus dem Zelt gezerrt, Schüsse fallen. Immer wieder aufstellen in einer Reihe, Appell, Drohungen, Verwirrung.
Empathie soll zur Hilfe für Flüchtlinge führen
In den ruhigen Momenten ist es kaum besser. Die Schule taugt nicht, weil die Lehrerin die Sprache nicht spricht. Essen gibt es nur gegen Bestechung – eine Uhr, ein Handy, ein Ehering sind eine kleine Schale Wasser wert. Medizin soll es angeblich bei der Ärztin geben. In ihrem Zelt liegen abgetrennte Körperteile, aber keine Pillen und Salben.
Der Soldat, der angeblich Medikamente hat, gibt sich mit Geld und Waren nicht zufrieden. "Hast du eine Tochter?", fragt er, ohne sich dafür zu interessieren, dass ich in der Simulation einen 15-Jährigen Bauernjungen darstelle. Meine Antwort interessiert ihn nicht. "Bring mir morgen deine Tochter, dann kriegst du Medizin."
Über 100 Anmeldungen zählt die Crossroads-Foundation für ihre Simulation bereits. "Viele Teilnehmer kommen heulend aus der Simulation, häufig genug brechen sie ab", erklärt David Begbie von der Organisation.
Er will mit dieser emotionalen Erfahrung Menschen wachrütteln. Sie sollen darüber nachdenken, was sie selbst tun können, um Flüchtlingen zu helfen. "Empathie ist einer der Schlüssel zu einer besseren Welt", glaubt er, "dann können Handlungen folgen".
Politik setzt auf Zugangsbegrenzung
Im krassen Gegensatz dazu: Die Eröffnungsrede des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck beim World Economic Forum. Auch er setzt auf Empathie in der Flüchtlingsfrage. Der Spielraum für Handlungen aber sei an einem kritischen Punkt angekommen: "Eine Begrenzung der Einwanderung ist nicht unethisch", so der Bundespräsident, "eine Begrenzungsstrategie kann moralisch und politisch sogar geboten sein, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten."
Die Botschaft: Mehr ist nicht mehr zu schaffen. Schon in diesem Jahr rechnet Gauck mit einer Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland und hofft, damit die Zustimmung der Bevölkerung wieder zu gewinnen.