Umstrittene Entscheidung: Keine russische Kultur in Kiew
20. Juli 2023Wenn in der ukrainischen Hauptstadt ein Straßenmusiker ein Lied auf Russisch singt, dann könnte er in Zukunft Ärger bekommen. Auch Bars oder Restaurants, die beispielsweise im Hintergrund russische Popsongs laufen lassen, könnten in Schwierigkeiten sein.
Denn der Stadtrat von Kiew hat ein Moratorium zur öffentlichen Nutzung von Kulturprodukten in russischer Sprache im Stadtgebiet erlassen - also etwa Bücher, Musik, Theateraufführungen, Konzerte sowie Kultur- und Bildungsangebote. Dabei geht es nicht allein um russische Urheber, sondern um alles, was auf Russisch oder in russischer Übersetzung öffentlich dargeboten wird.
Die Abgeordneten begründeten den Schritt damit, dass die Ukraine vor den Einflüssen der Russischen Föderation geschützt werden müsse. "Russisch ist die Sprache des Aggressorlandes und sie hat im Herzen unserer Hauptstadt keinen Platz", erklärte der stellvertretende Vorsitzende des Ständigen Ausschusses für Bildung und Wissenschaft, Jugend und Sport, Wadym Wasyltschuk.
Mehr moralischer Appell als wirksames Verbot
Die Initiative des Stadtrates wird unterstützt von der Bürgerbewegung Widsitsch (deutsch: Abwehr), die sich bereits 2014, nach der Besetzung der Krim, für ein Verbot von allem Russischen in der Ukraine einsetzte und zum Boykott russischer Waren, Filme und Musik aufrief. "Ein Verbot russischsprachiger Kulturprodukte ist notwendig", sagt die Widsitsch-Aktivistin Kateryna Tschepura der DW. "Das ist ein zusätzlicher Hebel für Aktivisten, die dafür kämpfen, dass alles Russische boykottiert wird, damit wir sagen können: Schaltet ab, entfernt Russisch aus dem öffentlichen Leben."
Allerdings: Ein Moratorium ist per Definition lediglich ein Aufschub, ein einstweiliger Stopp. Über ein rechtskräftiges Verbot müsste das ukrainische Parlament Werchowna Rada abstimmen. Die Entscheidung des Kiewer Stadtrats hat eher den Stellenwert einer politischen Deklaration.
Darum stellt Aktivistin Kateryna Tschepura fest, dass das jetzt vorliegende Moratorium "ein unwirksames Instrument ist, weil man für eine Missachtung nicht zur Verantwortung gezogen werden kann". Sie sieht es als "moralischen Faktor, der Menschen Mut macht, die russische Musik auf der Straße oder im Theater nicht weiter dulden wollen".
Tatsächlich gibt es in der Ukraine bereits einzelne Verbote russischsprachiger Kulturprodukte. Sie reichen zurück bis September 2019. Damals wurde der erste derartige Bann auf dem Gebiet der Stadt und der Region Lwiw verhängt. Anschließend wurde die Initiative der Lwiwer Abgeordneten in den Städten Ternopil und Schytomyr sowie der Region Wolhynien aufgegriffen.
Gespaltene Gesellschaft und öffentlicher Druck
Solche Beschlüsse seien diskriminierend und verstießen gegen die Verfassung, meint der Menschenrechtsaktivist des ukrainischen Zentrums für Bürgerfreiheiten, Wolodymyr Jaworskyj. "Das sind illegale Entscheidungen, denn die lokalen Behörden haben kein Recht, solche Fragen zu regeln und solche Verbote zu erlassen. Darum haben sie keine rechtlichen Konsequenzen", erläutert er der DW. Die Justiz habe bereits die Rechtswidrigkeit solch lokaler Beschlüsse festgestellt.
Sollte eine Person gegen das vom Kiewer Stadtrat festgelegte Moratorium für die öffentliche Nutzung von Kulturprodukten in russischer Sprache auf dem Stadtgebiet verstoßen, so betont auch Jaworskyj, dann könne sie dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden. "All diese Entscheidungen der lokalen Behörden sind ein rein politischer Schritt. Nur das Parlament des Landes kann solche Verbote per Gesetz erlassen." Nur dann wären sie verbindlich und nur dann werde jemand, der gegen sie verstoße, zur Rechenschaft gezogen.
Im Juni 2022 hatte der Oberste Rat, das Parlament der Ukraine, tatsächlich bereits die Verwendung von Liedern russischer Künstler im öffentlichen Raum untersagt. Allerdings handelt es sich nicht um einen totalen Bann. Er gilt nicht für russische Sänger, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine verurteilen. Kürzlich unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auch ein Gesetz, das die Einfuhr und Verbreitung russischer Bücher untersagt. Es war ebenfalls vergangenes Jahr vom Obersten Rat beschlossen worden.
Ob rechtskräftiges Verbot oder nicht - wer in der Öffentlichkeit russische Musik darbietet, sorgt in der Ukraine für Unmut. Aufsehen erregte zum Beispiel ein Streit zwischen einem 17-jährigen Straßenmusiker aus Odessa und der Parlamentsabgeordneten Natalia Pipa. Der junge Mann hatte in Lwiw auf der Straße Lieder der russischen Rocklegende Wiktor Zoi zur Gitarre gesungen. Die Abgeordnete beschwerte sich, worauf der Straßenmusiker sie beschimpfte und sagte, er dürfe die Musik spielen, die er möge. Doch schließlich sah er sich gezwungen, sich in einem Video bei der Abgeordneten öffentlich zu entschuldigen.
Ein umgekehrt gelagerter Fall ereignete sich im Dorf Pohreby in der Region Kiew. Dort wurde eine junge Frau aus einem Café geworfen, die sich darüber beschwert hatte, dass in dem Lokal ein Lied des russischen Popsängers Grigorij Leps gespielt wurde, der den Krieg Russlands gegen die Ukraine unterstützt.
"Kein Spiegelbild des Aggressors sein"
Auch Yevgenia Belorusets hält die Verbannung alles Russischen für diskriminierend. "All diese Verbote verbreiten den Mythos, die ukrainische Kultur sei immer in der Opferrolle. Das gibt ihr dann angeblich das Recht, andere Formen des kulturellen Ausdrucks zu diskriminieren", erklärt die ukrainische Künstlerin, Übersetzerin und Autorin, die auf Ukrainisch, Russisch und Deutsch schreibt.
"Die ukrainischsprachige Kultur weiß selbst zu gut, was Diskriminierung bedeutet. Sie sollte nicht versuchen, dieses Trauma zu überwinden, indem sie anderen ähnlichen Schmerz zufügt." Belorusets ruft dazu auf, "kein Spiegelbild des Angreifers zu sein und die aggressiven Absichten Russlands nicht auf die komplexe kulturelle Situation innerhalb der Ukraine zu projizieren".
Belorusets warnt, dass solche Verbote die ukrainische Gesellschaft spalten. "Aber es wird in der Ukraine immer schwieriger, darüber zu sprechen, weil das gleich als feindselig abgestempelt wird." Die Zukunft der demokratischen Ukraine liege doch gerade darin, sagt die Künstlerin, dass jeder seine Rechte und seine eigene komplizierte Vergangenheit habe. "Die Herausforderung ist, andere Ansichten innerhalb der Gesellschaft zuzulassen."
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk