Umstrittene Handyvideos
10. August 2012Der Mann rennt um sein Leben. Sein Handy hält er fest in der Hand und filmt seine Flucht vor den Hubschrauberangriffen. Es sind verwackelte Bilder. Das Rattern von Maschinengewehren ist zu hören, Rauchschwaden liegen in der Luft.
Die Aufnahmen laufen am Abend in deutschen Nachrichtensendungen. Sie sollen Angriffe der syrischen Armee auf die Zivilbevölkerung in Aleppo dokumentieren. Kein Journalist war vor Ort. Die Zuschauer müssen den Fernsehmachern glauben. Doch woher wissen die TV-Journalisten, was die Aufnahmen tatsächlich zeigen?Ein Indizienprozess
Das herauszufinden und das Bildmaterial zu verifizieren ist - zum Beispiel in der Nachrichten-Redaktion des ersten deutschen TV-Programms (ARD), in der Tagesschau-Redaktion in Hamburg - die Aufgabe von Michael Wegener und seinen Kollegen. Wegener ist Social-Media-Redakteur und durchforstet jeden Tag mit seinen Kollegen Twitter, YouTube und Facebook nach Videos, die nachrichtenrelevant sind und versucht deren Herkunft zu klären. "Das ist ein Indizienprozess", sagt Wegener. "Wir gucken uns Stück für Stück alle Indizien an und fragen: Ist das wirklich an diesem Ort aufgenommen? Ist das tatsächlich die Sprache? Kann das sein?"
Vierstufiger Verifikationsprozess
Die Tagesschau-Redaktion hat sich einen ausgeklügelten Verifikationsprozess ausgedacht, um in vier Stufen die Echtheit eines Handyvideos aus dem Netz zu überprüfen. In der ersten Stufe wird das Bildmaterial mit anderen Quellen, zum Beispiel Meldungen von Nachrichtenagenturen, abgeglichen. So können die Redakteure feststellen, ob wirklich heute an dem Ort, an dem das Video aufgenommen worden sein soll, ein Gefecht stattgefunden hat.Der zweite Schritt ist die Überprüfung der Quelle. Dabei geht es vor allem um die Frage nach dem Urheber des Videos und dessen Glaubwürdigkeit. Ist derjenige bekannt, der das Video im Internet verbreitet hat? Kann er kontaktiert werden? Ist er vertrauenswürdig?
Der dritte Schritt ist der Abgleich der Informationen mit Experten. Das heißt Wegener und seine Kollegen zeigen das Video zum Beispiel den ARD-Korrespondenten, Deutschen, die in Syrien leben oder gelebt haben, Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen, Menschen die sich alle in dem jeweiligen Land auskennen. "Wir fragen die Experten, ob das, was man auf den Aufnahmen sieht, wirklich sein kann?", erklärt Wegener. Im vierten und letzten Schritt wird überprüft, ob das Video technisch manipuliert und bearbeitet wurde.
Keine absolute GewissheitAber selbst wenn am Ende dieses Verifikationsprozesses alle Indizien darauf hindeuten, dass das Video echt ist, so ist das immer noch kein eindeutiger Beweis. Für den Leipziger Journalistik-Professor Martin Welker liegt genau hier die Gefahr: "Die Redaktion könnte sich dadurch auf ein gefährliches Gebiet der Halbwahrheiten und manipulierten Fakten begeben", meint Welker. Deshalb müssen die Redakteure bei jedem neuen Video erneut abwägen, wie nachrichtenrelevant das Ereignis ist, damit man sich dafür entscheidet, Bildmaterial zu senden, dessen Echtheit nicht eindeutig bestätigt ist.
Da es keine einhundertprozentige Sicherheit gibt, ist es für Michael Wegener besonders wichtig, dass die Fernsehmacher den Zuschauern ehrlich und transparent gegenüber treten. Das heißt zum Beispiel, dass die Quelle im Nachrichtenbeitrag eingeblendet wird und dass der Kommentar entsprechend zurückhaltend formuliert wird. "Wenn wir das Video nicht einhundertprozentig verifizieren können, müssen wir das auch sagen", so Wegener.
Ob zum Beispiel das Video von den angeblich beschossenen Zivilisten wirklich aus Aleppo stammt, werden die Zuschauer wohl erst viel später erfahren.