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Umstrittenes Urteil

Judith Hartl23. Oktober 2012

Sechs Jahre Haft, weil sie das Erdbeben nicht kommen sahen. Die ersten Reaktionen auf das Urteil: empörend, skandalös und völlig überzogen. Doch einige Wissenschaftler sehen auch eine gewisse Schuld bei ihren Kollegen.

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Verurteilte italienische Forscher nach der Urteilsverkündung (Foto: AFP/Getty Images)
Bild: AFP/Getty Images

Erdbeben kann man nicht vorhersagen. Wissenschaftlich ist das nicht möglich. Die italienischen Forscher haben trotzdem eine eindeutige Prognose gewagt. Vor dem verheerenden Erdbeben in L'Aquila am 6. April 2009 beruhigten sie die Bevölkerung trotz zahlreicher Kleinbeben. "Sie können sich einen ruhigen Abend machen", soll der Ingenieur Bernardo De Bernardinis gesagt haben - und so etwas wie "und ein Glas Rotwein genießen". Kurz danach bebte die Erde und 309 Menschen starben.

Waren also die Wissenschaftler schuld? Haben sie die 309 Toten auf dem Gewissen? Darf man sie für eine Naturkatastrophe bestrafen? "Natürlich nicht. Doch zumindest musste die Sache geklärt werden", sagt Prof. Rainer Kind gegenüber der Deutschen Welle, denn "das Verhalten der Wissenschaftler war nicht korrekt", ihre Vorhersage - es werde kein Beben geben - ein großer Fehler. Genaue Prognosen seien für Erdbeben - im Gegensatz zu anderen Naturkatastrophen wie Tsunamis, Wirbelstürme oder Überschwemmungen - unmöglich.

Fassungslos über "skandalöses" Urteil

Kind und seine Kollegen vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam verfolgten den Prozess genau. Sie befürworteten ihn anfangs sogar. Die Höhe der Strafe überrasche sie jetzt aber doch, sagt Kind recht fassungslos. Sechs Jahre Gefängnis für die sieben Wissenschaftler wegen fahrlässiger Tötung - Prof. Reinhard Merkel, Experte für Strafrecht an der Universität Hamburg, hält das Urteil für "skandalös", die Höhe der Strafe für "indiskutabel".

Zwar könne man den Wissenschaftlern fahrlässige Tötung anlasten - denn ihre Aussagen über die Ungefährlichkeit der Situation könnten dazu beigetragen haben, dass mehr als 300 Menschen starben - aber sechs Jahre seien völlig überzogen, versichert Merkel im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Zerstörtes L'Aquila nach dem schweren Erdbeben am 7. April 2009 (Foto:Guardia Forestale, File/AP/dapd)
Gebäude stürzten am 7. April 2009 in Sekundenschnelle in sich zusammen. Niemand in L'Aquila wurde zuvor evakuiertBild: dapd

In Deutschland liegt die Obergrenze für fahrlässige Tötung bei fünf Jahren. Doch dafür müsse ein Schwerstdelikt vorliegen, sagt Merkel, verbunden mit Raub, Körperverletzung oder Vergewaltigung. Bei den italienischen Wissenschaftlern handele es sich eher um so etwas wie "grobe Schlamperei".

Gefahr verharmlost?

Die italienischen Erdbeben-Experten werden nicht dafür bestraft, dass sie unzureichend gewarnt haben. Sie werden bestraft, weil sie die Bevölkerung im Glauben gelassen haben, es werde nichts passieren. Sie gaben Entwarnung, ohne wissen zu können, ob ein Beben kommt oder nicht. Warum sie das taten, ist unklar. Vielleicht drängten sie die Behörden zu diesem Schritt, um die Einwohner von L'Aquila nicht zu beunruhigen oder um eine - möglicherweise unnötige aber auf jeden Fall teure - Evakuierung zu vermeiden.

Ganz egal, was die Gründe waren, letzten Endes, sagt Rainer Kind vom Deutschen Geoforschungszentrum, seien Wissenschaftler dazu verpflichtet, die Wahrheit an die Öffentlichkeit zu bringen. Und die wäre gewesen: Wir wissen nicht, ob ein schweres Beben droht. Stattdessen hätten sie die Gefahr verharmlost.

Doch es gibt Forscher, die das anders sehen. Zum Beispiel der Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes, Stefan Wiemer. Seiner Meinung nach haben die italienischen Forscher - wissenschaftlich gesehen - alles richtig gemacht. Denn eine Serie kleiner Erdstöße, wie sie auch 2009 in der stark erdbebengefährdeten Region von L'Aquila auftrat, könne zwar Vorbote eines größeren Bebens sein, aber nur ganz selten - in etwa einem Prozent der Fälle.

Prof. Dr. Rainer Kind vom Geoforschungszentrum in Potsdam (Foto: GFZ)
Prof. Rainer Kind, Geoforschungszentrum PotsdamBild: GFZ Potsdam

Aber haben Wissenschaftler das letzte Wort, wenn es darum geht, Menschen über Naturkatastrophen zu informieren oder Entscheidungen über Evakuierungen zu treffen? "Nein", meint Rainer Kind. Das sei Aufgabe der Sicherherheitskräfte und Behörden. Wissenschaftler können ihnen dabei auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse beratend zur Seite stehen.

Dass nun Wissenschaftler nach dem L'Aquila-Urteil sehr viel vorsichtiger abwägen werden, ob sie in der Öffentlichkeit über die Gefahren von Naturkatastrophen sprechen werden, glaubt Kind nicht. Wichtig sei, dass man als Forscher "immer bei der Wahrheit bleibt und sich nicht von Politikern oder Behörden einschüchtern oder für bestimmte Interessen instrumentalisieren lässt".