UN: "Ein Drittel Afghanistans ist betroffen"
27. Oktober 2015Wie stark ist die örtliche Bevölkerung vom Erdbeben betroffen?
Dominic Parker: Das Beben hatte eine Stärke von 7,5 auf der Richter Skala, in einer Tiefe von etwa 220 Kilometern unter der Erdoberfläche.
Die betroffenen ländlichen Gebiete sind zum größten Teil sehr abgelegen und haben eine niedrige Bevölkerungsdichte. Die Auswirkungen könnten deshalb in Afghanistan weniger massiv sein als ein Erdbeben dieser Größenordnung vermuten lassen würde. Also erwarten wir keine so schweren Schäden wie bei den Beben 2010 in Haiti oder 2005 in Pakistan.
Im Moment versuchen wir uns einen Überblick über die Zerstörung zu verschaffen - wir haben noch kein Gesamtbild der Lage nach dem Beben und wie stark die Bevölkerung betroffen ist. Die ersten Berichte lokaler Behörden sprachen von 76 Toten und weniger als 300 Verletzten. Aber das sind nur erste Zahlen.
Modellrechnungen der US-Erdbebenbehörde gehen davon aus, dass man in solchen Gebieten erfahrungsgemäß von 100 bis 1000 Todesopfern ausgehen muss. Dies ist aber keinerlei Einschätzung wie die Lage vor Ort ist.
Nach Erdrutschen sind die Straßen zwischen Jalabad und Kabul sowie von Taloqan nach Kunduz unpassierbar. Wie lange brauchen Hilfs-und Rettungsteams, um die Gegend zu erreichen?
Uns wurde gesagt, dass das Ministerium für öffentliche Arbeiten und das Verteidigungsministerium Ausrüstung und Rettungsmannschaften losgeschickt haben, um die Straßen nach den Erdrutschen wieder passierbar zu machen. Es gibt einen Behördenbericht, nach dem die Straßen in der Provinz Takhar bereits wieder befahrbar sind. Aber noch ist diese Nachricht nicht bestätigt. Wir müssen bedenken, dass dieser Teil Afghanistans sehr abgelegen ist. Die Straßen sind meistens nicht asphaltiert, die einzige Ausnahme ist eine Nord-Süd-Verbindung.
Gibt es bereits Rettungsmannschaften vor Ort?
14 von 34 Provinzen sind von dem Erdbeben betroffen, das ist fast ein Drittel des Landes. Die erste Hilfe kommt direkt aus den Dorfgemeinschaften selbst. Örtliche Sicherheitskräfte, NGOs, Behördenmitarbeiter, die in den betroffenen Distrikten und Provinzen wohnen und arbeiten, haben sicherlich direkt nach dem Beben geholfen.
Was brauchen die Erdbebenopfer am dringendsten?
Noch wissen wir das nicht genau. Aber von früheren Erdbeben wissen wir, was gebraucht wird. Medikamente und Verbandszeug für die Verletzten werden sicher gebraucht, daneben Trinkwasser und Lebensmittel. Dann werden Unterkünfte benötigt für die Menschen, die nicht in ihre beschädigten Gebäude zurückkehren können.
Allerdings müssen wir uns die Lage in Afghanistan realistisch vor Augen führen: Wir müssen unsere Erwartungen herunterschrauben, wenn es darum geht, was in diesem Land überhaupt in Erfahrung gebracht und getan werden kann. Und das gilt besonders, wenn es um die Reaktionsgeschwindigkeit nach Naturkatatstrophen geht.
Wie geht die afghanische Regierung aus Ihrer Sicht um mit der Situation?
Wir wissen, dass bereits mehrere Voraus-Kommandos damit begonnen haben, vor Ort Informationen zusammenzutragen. Diese Teams sollen das Ausmaß der Schäden und die Zahl der Opfer recherchieren. Innerhalb der nächsten zwei Tage werden erste Ergebnisse vorliegen. Die afghanische Regierung hat den Nationalen Sicherheitsrat zusammengerufen, um die Koordination zwischen den verschiedenen Ministerien und der Internationalen Gemeinschaft zu organisieren.
Wissen Sie, ob die afghanische Regierung um Hilfe von außen gebeten hat?
Soweit ich weiß, hat die afghanische Regierung zumindest von Seiten Indiens und Irans Hilfsangebote bekommen. Bevor wir das genaue Ausmaß der Schäden nicht kennen, macht es keinen Sinn, internationale Unterstützung anzufordern.
Nach allem, was wir wissen, sind die Taliban in einigen der betroffenen Regionen sehr aktiv. Inwieweit wird diese Tatsache eine Rolle spielen, wenn es darum geht, Hilfsgüter zu liefern?
Momentan konzentrieren sich alle Bemühungen darauf, überhaupt in die entlegenen Regionen vorzudringen und das zerstörte Kommunikationsnetz wieder aufzubauen. Die fehlenden Kommunikationsstrukturen sind ja auch der Grund dafür, dass das Ausmaß der Zerstörung noch gar nicht bekannt ist. Dazu kommt, dass das Epizentrum des Bebens in einer entlegenen und unterentwickelten Region lag. Wie die Situation vor Ort ist und ob die betroffenen Gebiete unter Kontrolle der Taliban sind oder nicht, kann ich nicht sagen.
Ich weiß aber, dass es einige zivilgesellschaftliche Organisationen - auch internationale NGOs - gibt, die in Distrikten aktiv sind, die von den Taliban kontrolliert werden und die versuchen, vor Ort zu helfen.
Dominic Parker ist Leiter des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Hilfe in Afghanistan (OCHA).