Unberechenbar: Struktur und Ziele der neuen El Kaida
8. September 2006Auf dem Video ist nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa das politische Testament von Bin Laden sowie von Hamsa al-Ghamdi und Wail al-Shihri festgehalten. Letztere flogen an Bord von zwei entführten Flugzeugen am 11. September 2001 in die beiden Türme des World Trade Centers in New York.
Vor ihrem Großangriff auf die USA war El Kaida kaum jemandem im Westen bekannt, inzwischen ist sie längst zum Inbegriff des Bösen geworden, zum Feindbild im "Krieg gegen den Terror". Die "Basis" (arabisch: El Kaida) hat sich in diesen fünf Jahren grundlegend verändert. Sie hat sich weg bewegt vom Typus der zentral gesteuerten Organisation mit straffen Befehlsstrukturen - Weg vom "Spinnennetz", in dessen Mitte der saudische Multimillionär Osama bin Laden und dessen ägyptischer Mentor und Vordenker, Ayman al-Zawahiri, sitzen.
Die beiden haben das Netz längst verlassen und sich verkrochen. Aller Wahrscheinlichkeit nach im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, in das sie vor drei Jahren von den US-Truppen gebombt wurden und wo sie offenbar die Gastfreundschaft pakistanischer Stämme genießen, gegen die vorzugehen Islamabad sich nicht traut und die USA ebenso wenig: Ein offenes Eingreifen der USA hätte unabsehbare Folgen in Pakistan und der gesamten Region.
Die Vordenker sind vorsichtig geworden
Bin Laden und Zawahiri sind äußerst vorsichtig geworden: Längst schon kommunizieren sie nicht mehr per Satellitentelefon. Post- und Geldwege sind kompliziert und ebenso geheimnnisvoll wie der Weg der Video- oder Audio-Kassetten, mit denen sich die Kaida-Führer weiterhin regelmäßig an die Welt wenden - wie die Video-Botschaft nur eine Woche vor dem Jahrestag des 11. September, in der Zawahiri und ein US-amerikanischer Überläufer die Amerikaner und den Westen aufforderten, zum Islam überzutreten und damit für den Tag vorzusorgen, an dem dieser die Weltherrschaft übernehme.
Die "Kaida"-Führung tat sich immer schon hervor mit einem Mix aus politischer und religiöser Botschaft, deren Zielrichtung der Westen war. Früher gingen von ihr aber auch konkrete Befehle zu Anschlägen aus: Zuerst in Nairobi und Dar-es-Salaam, dann in New York und Washington.
Befehle von ganz oben sind nicht mehr nötig
Die Kette der Anschläge ist seit der Vertreibung aus Afghanistan nicht abgerissen und ihre blutroten Markierungen auf der Weltkarte reichen längst von Südostasien bis nach Westeuropa und von Marokko bis in den Irak. Nur: Längst scheinen diese Taten auf das Konto selbständig agierender Gruppen und Täter zu gehen, die keine direkten Befehle mehr von bin Laden brauchen, sich aber längst identifizieren mit den Zielen, die der "Scheich" vorgegeben hat - wie bin Laden ehrfurchtsvoll von seinen Anhängern genannt wird.
Der meistgesuchte Terrorist der Welt begann als betuchter Sohn aus guter saudischer Familie. Jugendfreunde wollen wissen, dass sein späterer Weg keineswegs vorgezeichnet war. Nach der sowjetischen Besetzung Afghanistans schloss bin Laden sich aber den von Saudi-Arabien, den USA und Pakistan unterstützten Mudschaheddin an, deren Ziel es war, Afghanistan von den "Ungläubigen" zu befreien.
Es begann in Afghanistan
Aus denselben Beweggründen zog es damals junge militante Muslime aus vielen Ländern nach Afghanistan. In dieser internationalen Brigade unter der Flagge des Propheten wurde die Grundlage geschaffen für die spätere Terror-Organisation. Die jungen Leute halfen nicht nur bei der Vertreibung der Sowjets, sie waren auch intensiver ideologischer Bearbeitung durch islamistische Theoretiker ausgesetzt, die in Orten wie dem pakistanischen Peschawar Unterschlupf gefunden hatten.
Zunächst wollten die "Gotteskrieger" aus Ägypten, Algerien, Saudi-Arabien, dem Jemen und anderen Teilen der arabischen Welt nicht nur Afghanistan befreien, sondern sie wollten am Hindukusch auch für den "Befreiungskampf" daheim trainieren: Wie die "Moslembruderschaft" lehnten sie alle ihre heimischen Herrscher und Regime als illegitim ab und betrieben deren Sturz. Es sollte nicht lange dauern, bis die Ideologen ihnen weisgemacht hatten, dass diese Regime nur das kleinere Übel seien und dass sie sich nur halten könnten, weil das "größere Übel" sie unterstütze und an der Macht halte: Der Westen, besonders die Vereinigten Staaten.
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Der "ungläubige" Westen rückte ins Visier
Der Glaube an diese Theorie wurde verstärkt durch das Scheitern der Umsturzversuche der heimgekehrten Afghanistan-Kämpfer in Ägypten und Algerien. Als dann die Taliban in Afghanistan an die Macht kamen, setzte eine Rückkehr-Bewegung der frustrierten Kämpfer ein. Bin Laden hatte sich da bereits in Afghanistan festgesetzt und die ersten Trainingslager für kampfbereite Islamisten eröffnet. Deren Ziel war es immer weniger, die eigenen Regime zu stürzen, sondern die USA und Israel oder den Westen insgesamt zu bekämpfen, die längst die Rolle der "Ungläubigen" von den Sowjets übernommen hatten. Man unterstellte ihnen - keineswegs immer zu Unrecht -, die islamische Welt bewusst und gezielt zu unterdrücken, auszubeuten und niedrig zu halten.
Solche Slogans fielen auf fruchtbaren Boden bei Millionen von Entrechteten und Frustrierten und entsprechend wuchs die Anhängerschaft und Bewunderung für Osama bin Laden - der Mann, der es wagte, den USA die Stirn zu bieten. Eine Bewunderung, die man in der islamischen Welt in ähnlicher Form zeitweilig auch Saddam Hussein entgegen brachte und die man heute für den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmedineschad findet.
Statt strenger Befehlsstrukturen lockere Verbände
Der Bazillus der Ideologie bin Ladens und Zawahiris überlebte deren Vertreibung aus Kabul und Kandahar und die Zerschlagung der Befehlsstrukturen der "Kaida". Statt dessen entstand die neue "Kaida": Ein lockerer Verband ähnlich orientierter Gruppen und Einzeltäter weltweit, die untereinander meist keine Verbindung haben, die sich ihr geistliches Rüstzeug von Hasspredigern holen, die noch in Afghanistan trainiert oder im Irak "Erfahrung gesammelt" haben. Sie lernen bei einschlägigen Adressen im Internet, wie man Bomben bastelt und Anschläge plant und durchführt.
Neu ist, dass diese Täter nicht mühsam auf konspirative Weise rekrutiert und vorbereitet werden müssen. Sie handeln oft aus eigenem Antrieb und kommen meist nicht aus den Kreisen, in denen die Fahnder sie mit ihren Fahndungskriterien vermuten. Vielmehr - Großbritannien hat das ebenso gezeigt wie der Fall der verhinderten Zugbomber in Deutschland - handelt es sich um Personen, die bisher in keine Fahnder-Schablone passten.
Unzufriedenheit und Frust allein können nicht als Gefährdungskriterien gelten, wie auch nicht die Zugehörigkeit zum Islam. Deswegen ist - trotz des Drucks auf bin Laden und Zawahiri die neue "Kaida" vielleicht gefährlicher als die alte: Sie ist unberechenbarer und undurchschaubarer geworden. In gewissem Maße vielleicht auch längst mehr Mythos als konkreter Kriegsgegner. Genau hier liegt wohl das Hauptproblem heute: Schon die alte "Kaida" konnte mit konventionellen Methoden nicht besiegt werden, die neue ist noch mehr dagegen gefeit.