Ungarn: LGBTQ - Orbáns neuer Hauptfeind
15. Juni 2021Persönlich ist Ungarns Premier Viktor Orbán kein eingefleischter Schwulenhasser. Dennoch macht er von Zeit zu Zeit aus politischem Kalkül homophobe Bemerkungen. Meistens sind sie unwürdig, manchmal auch regelrecht verstörend. So wie im vergangenen Herbst. Damals zog Orbán in einem Interview eine Parallele zwischen Homosexualität und Pädophilie: "Ungarn ist hinsichtlich der Homosexualität ein tolerantes, ein geduldiges Land", sagte er. "Doch gibt es eine rote Linie, die man nicht überschreiten darf: Lasst unsere Kinder zufrieden!"
Nun steht diese Aussage als ungeschriebenes Motto über einem neuen Gesetz, das von Orbáns Regierungsmehrheit vorgeschlagen und vom ungarischen Parlament am heutigen Dienstag verabschiedet wurde. Darin werden Strafverschärfungen für Pädophilie, Kinderschutz und ein Verbot der Propagierung von Homosexualität bei Minderjährigen miteinander vermischt. In der Begründung heißt es dazu unter anderem, die Popularisierung von Geschlechtsänderungen und Homosexualität könne Minderjährigen in ihrer moralischen Entwicklung und bei der Ausformung ihrer geburtsgeschlechtlichen Identität schaden.
Die Gesetzesvorlage hatte in den vergangenen Tagen in Ungarn für große Kontroversen gesorgt: Zahlreiche zivile Organisationen, darunter Amnesty International, protestierten gegen den Vorstoß der Regierungsmehrheit, eine Petition gegen das neue Gesetz unterschrieben bereits mehr als 100.000 Menschen. Am gestrigen Montag demonstrierten auf dem Budapester Kossuth-Platz vor dem Parlament etwa 10.000 Menschen unter dem Motto: "Akzeptanz statt Propagandagesetz". Die meisten Oppositionsparteien haben die Abstimmung über das Gesetz boykottiert. Einzig die ehemals rechtsextreme und heute gemäßigt rechtskonservative Jobbik-Partei, die zur vereinten Opposition gehört, hat zusammen mit Orbáns Regierungspartei Fidesz für die Vorlage gestimmt.
Ursprünglich ging es in dem Ende Mai vorgelegten Entwurf nur um Strafverschärfungen für Pädophilie. Hintergrund waren mehrere Fälle von Kindesmissbrauch im Umkreis von Fidesz, deren Vertuschung nicht besonders erfolgreich verlief. Dazu zählt der lange Zeit geheim gehaltene Fall des ehemaligen ungarischen Botschafters in Peru, Gábor Kaleta, der im vergangenen Jahr wegen des Besitzes von rund 19.000 kinderpornographischen Bildern zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde.
Weit gefasste Formulierungen
Offenbar ist Orbán nun mit einem Anti-Pädophilie-Gesetz in die Offensive gegangen um den Verdacht auszuräumen, seine Partei trete nicht entschieden genug gegen Kindesmissbrauch auf. Ende vergangener Woche hatten Fidesz-Abgeordnete dann plötzlich die Passagen zum Schutz von Kindern vor Homosexualität in den Gesetzentwurf eingebracht.
Den sehr weit gefassten Formulierungen zufolge ist es künftig in Ungarn verboten, Homosexualität und Geschlechtsumwandlungen vor Minderjährigen zu propagieren. Nur noch von der Regierung ausgewählte Organisationen dürften zu solchen Themen Vorträge in Schulen halten. Auch Werbung, in der Homosexualität und Geschlechtsumwandlung "als Selbstzweck" dargestellt wird, darf für Minderjährige nicht mehr zugänglich sein.
Verbotsliste für Filme?
Eine genaue Definition bietet das Gesetz nicht. Daher könnte nun prinzipiell sogar schon das Zeigen von Regenbogenfahnen in der Öffentlichkeit strafbar sein. Auch auf Medieninhalte im weitesten Sinn könnte das Gesetz Einfluss haben - darauf wies Ungarns größter privater Fernsehsender, RTL Klub, in einer Erklärung hin. Möglicherweise kämen sogar Filme und Serien, die modernes Familienleben thematisieren, auf eine Verbotsliste, heißt es in der Stellungnahme.
Einen Fragenkatalog der DW zu dem Gesetz ließ die ungarische Regierung unbeantwortet. Das Staatssekretariat für internationale Kommunikation sandte der DW lediglich eine schriftliche Stellungnahme, die mit dem Begründungstext für den Gesetzentwurf nahezu identisch ist. Der ungarische Politologe András Bozóki von der Central European University (CEU) in Wien sagt gegenüber der DW, dass das Gesetz klar gegen die Werte der EU verstoße und letztlich wohl von einem europäischen Gericht für rechtswidrig erklärt werden würde.
"Agenda der Polarisierung"
"Das Gesetz nimmt sich Russland und Polen zum Vorbild", so Bozóki gegenüber der DW. Er spielt darauf an, dass in Russland 2013 ein Gesetz gegen Homo-Propaganda verabschiedet wurde und in Polen Staatspräsident Andrzej Duda vergangenes Jahr vor seiner Wiederwahl eine stark homophobe Kampagne geführt hatte. In Orbáns Ungarn spielte Homophobie lange Zeit keine herausragende Rolle. Das hat sich inzwischen geändert: Im vergangenen Jahr wurde die amtliche Änderung des Geburtsgeschlechts in Ungarn gesetzlich verboten und die Verfassung um den Zusatz ergänzt: "Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann." Damit besitzen gleichgeschlechtliche Paare in Ungarn kein Adoptionsrecht mehr.
"Ich denke, dass Orbán mit dem neuen Gesetz einerseits von verschiedenen Problemen der letzten Zeit ablenken will", sagt Bozóki. "Anderseits hat er auch Themen verloren. Beispielsweise kann man mit Angst vor Migration keine Massen mehr mobilisieren, weil kaum noch Flüchtlinge kommen. Deshalb greift Orbán jetzt zu einem Identitätsthema wie dem der radikalen Homophobie, bei dem die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten bewusst verwischt werden und das auf eine Agenda der gesellschaftlichen Polarisierung setzt."
Spaltung der Opposition
Tatsächlich läuft es seit längerem nicht mehr rund für den Premier. Der Verdruss der ungarischen Öffentlichkeit über Korruptionsaffären im Umkreis des Regierungschefs und Pandemie-Missmanagement wächst. Deshalb ist Orbán in der letzten Zeit politisch immer mehr in die Defensive geraten. Abzulesen war das jüngst an einem der seltenen Rückzieher, den seine Regierung machen musste: Sie nahm ein äußerst unpopuläres ungarisch-chinesisches Universitätsprojekt vorläufig von der Agenda - kleinlaut ließ Orbáns Kanzleichef Gergely Gulyás wissen, dass sich die Regierung einer Volksabstimmung über den Bau eines Ablegers der staatlichen chinesischen Fudan-Eliteuniversität in Budapest nicht widersetzen werde.
Mit dem neuen Gesetz wolle Orbán allerdings nicht nur thematisch wieder in die Offensive gehen, glaubt der Politologe András Bozóki. Es gehe auch darum, die Opposition zu spalten. Tatsächlich stellt das Abstimmungsverhalten von Jobbik die vereinigte Opposition nun vor ihre erste große Zerreißprobe: Die sechs größten Oppositionsparteien Ungarns hatten Ende letzten Jahres beschlossen, mit einer gemeinsamen Liste und einem gemeinsamen Grundsatzprogramm zur Wahl im kommenden Frühjahr anzutreten - denn nur so haben sie unter den gegenwärtigen Wahlbedingungen in Ungarn eine Chance gegen Fidesz. Nun sei es Orbán erneut gelungen, seine Gegner zu spalten, sagt András Bozóki. "Das ist eine schlechte Nachricht für die Opposition."
Schockierender Selbstmord
Unterdessen zeigte vor kurzem ein schockierender Fall, welche tragischen Folgen es haben kann, wenn Kinder über Sexualität keine uneingeschränkte Aufklärung erhalten: Vor kurzem berichtete die ungarische Boulevardzeitung "Blikk" über den Selbstmord eines 13jährigen Jungen in einem ostungarischen Dorf, der sich offenbar wegen seiner Homosexualität das Leben genommen hatte. "Er wurde nicht mit seinem Anderssein fertig, er mochte Jungen", sagte der verzweifelte Vater der Zeitung. "An mir nagt der der furchtbare Schmerz, dass ich wegen meiner vielen Arbeit nicht genug auf seine seelische Befindlichkeit geachtet habe."