"Ungarn – wohin?"
23. September 2011"Wir freiheitsliebenden Künstler beobachten mit größter Sorge, in welchem Ausmaß Ausgrenzung, Aggression gegen Minderheiten und Intoleranz heute in Ungarn und in Europa auf dem Vormarsch sind. Viele von uns haben lange geglaubt, dass diese Phänomene für immer der Vergangenheit angehören und ein für alle mal ihre Salonfähigkeit eingebüßt haben. Stattdessen müssen wir mit Bestürzung sehen, dass diese furchtbaren Ideen sogar innerhalb der Europäischen Union an Boden gewinnen und immer stärker werden. Wir müssen auch feststellen, dass Ungarn (…) leider auch in dieser Hinsicht zu den Vorreitern gehört."
So beginnt der im Januar 2011 veröffentlichte Aufruf einiger der führenden ungarischen Künstler und Intellektuellen – darunter der Pianist Andras Schiff und der Dirigent Adam Fischer. Die Petition, die von den Autoren in Brüssel vorgestellt wurde, sorgte für Aufsehen nicht nur in Ungarn, sondern europaweit. In der Kritik stehen vor allem der ungarische Premier Viktor Orban und seine Fidesz-Partei. Seit dem Amtsantritt im Mai 2010 untergräbt Orban nach Meinung der Kritiker ständig demokratische Prinzipien und schürt Homophobie, Antisemitismus und Rassismus gegen die Roma in dem EU-Land. Auch die Künstler bleiben von staatlicher Einmischung nicht unberührt, "die Freiheit der Medien, der Kunst und der Kulturschaffenden wird immer stärker eingeschränkt", stellen die Verfasser der Petition fest.
Die Verantwortung des Künstlers
Der Dirigent Ivan Fischer, Musikdirektor des Budapest Festival Orchestra und Bruder von Adam Fischer, sieht den Grund für diese Entwicklung in den National-Träumereien, die zurzeit in Ungarn Hochkonjunktur haben. Es sei wie eine Droge, sagt Fischer - in den Träumen von den unrealistischen Zielen werde die Wirklichkeit vergessen. Gerade hier sei die Rolle der Künstler wichtig, weil sie der Wahrheit verpflichtet seien, betont Ivan Fischer. Denn "es ist so, dass Künstler in wichtigen Momenten eine Verantwortlichkeit haben, weil die Leute zuhören."
Was ein bekannter Künstler über die Gesellschaft sage, das gehe alle an, betont Fischer. "Ich finde es beispielsweise hochwichtig, was Thomas Mann über die Nazis gesagt hat, was Furtwängler gesagt oder nicht gesagt hat, was Karajan gesagt oder nicht gesagt hat – das sind hochwichtige Dinge, weil die Leute zuhören. Wenn ein Künstler sehr bekannt ist, hat er eine große Verantwortung, die Wahrheit zu verteidigen und offen zu sagen", sagt der Dirigent Ivan Fischer.
"Der Glaube an die Nation"
Auch die in Budapest geborene und heute in Fulda lehrende Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky betont die Gefahr, die in Ungarn gegenwärtig von einer "Droge Nationalismus" ausgehe. Ein "Glaube an die Nation, an das Volkstum, an die Volksgemeinschaft" beherrsche heutzutage in Ungarn den öffentlichen Diskurs, sagt sie, ein von ganz oben geförderter "ethnische Kulturnationalismus". Da würden Menschen anderer Herkunft sowie anderer Ansichten marginalisiert und auch unterdrückt, es dominiere eine völkische Kultur.
Der österreichische Publizist Paul Lendvai, selbst auch in Budapest geboren, glaubt, dass die Ursache für den politischen Rechtsruck und den herrschenden Nationalismus in Ungarn vor allem in der Enttäuschung der Menschen über den ausbleibenden Wohlstand nach der Wende zu suchen sei. Man habe mehr erwartet, und als das erträumte Paradies ausblieb, hätten die Demagogen leichtes Spiel gehabt.
Auch der deutsche Fernsehjournalist Michael Kluth, der das Land regelmäßig bereist und mehrere Dokumentarfilme über Ungarn verfasst hat, warnt vor den autoritären Tendenzen in der jetzigen ungarischen Gesellschaft. Das neulich verabschiedete Pressegesetz führe faktisch die Zensur in die ungarische Medienlandschaft ein und beschneide die freie Meinungsäußerung. Medien im Lande würden gleichgeschaltet, sagt Kluth.
Rassismus gegen die Roma
Eine der Folgen der Stärkung der ethnisch definierten Volksgemeinschaft der "Magyaren" sei die Ausgrenzung derjenigen, die angeblich nicht dazu gehörten – und in Ungarn seien das überwiegend die Angehörigen der Roma-Minderheit. Sie seien besonders von den rassistischen Tendenzen im Land betroffen, warnt Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma. Die rechtsradikale Partei Jobbik, die offen eine romafeindliche Politik vertritt, hat bei den letzten Wahlen 17 Prozent der Stimmen bekommen - Schikane und Übergriffe auf die Roma und Sinti seien heute an der Tagesordnung in Ungarn, sagt Rose.
Dabei seien die Roma untrennbar mit der ungarischen Kultur und Identität verbunden – zahlreiche Kompositionen von Johannes Brahms oder Franz Liszt zeugen davon, betont Ivan Fischer, der auch Chefdirigent beim National Symphony Orchestra in Washington ist. "Das sind Kulturschätze Europas" betont er und fügt hinzu: "Die Roma-Bevölkerung finde ich im Allgemeinen sehr gut für Ungarn, das bereichert das Land. Und wenn die Leute gegen die Roma, Sinti oder Zigeuner Emotionen entwickeln – das ist einfach so ein primitiver Nachbarn-Hass oder Neid." Fischer meint, dass "die Leute nicht verstehen, wie viel die Zigeuner zu Europa beigetragen haben". Und wenn ein Geiger aus den Zigeunerfamilien spielt, wenn man eine Musikertradition weitergegeben hat – "das ist das Schönste, was man sich vorstellen kann. Das hat Ungarn schöner gemacht und das hat auch Europa schöner gemacht", sagtt Ivan Fischer entschieden.
Ungarn – alles normal?
Anders bewertet Peter Spary, Präsident der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft, die Situation in Ungarn. Er betont, dass die Ungarn im Mai 2010 frei und demokratisch gewählt und bewusst dem Ministerpräsidenten Viktor Orban eine Zwei-Drittel Mehrheit im Parlament beschert haben. Es sei eine Reaktion gewesen auf die vorherige sozialistische Regierung, die in einem Sumpf von Korruption und Vetternwirtschaft verkommen sei. Insoweit, unterstreicht Spary, sei die Wahl Orbans eine "Rückkehr zur Vernunft."
Auch Janos Can Togay, Direktor des Collegium Hungaricum in Berlin betont, dass Ungarn ein demokratisches Land und ein Rechtsstaat, die Ungarn ein mündiges Volk seien. Es sei vielleicht nicht alles ideal im Lande, sagt Togay, aber er betont: "Demokratie ist ein Lernprozess, eine Dynamik." Man sollte nicht vergessen, dass es eine demokratische Wende in Ungarn erst seit 1989 gebe, nach jahrzehntelanger kommunistischer Diktatur. "Die demokratischen Traditionen in Ungarn waren nie lupenrein, und seit 1989 lernt und versucht Ungarn mit der Demokratie umzugehen", ergänzt Togay. Gerade da spiele die Kultur eine große Rolle, denn sie schaffe Freiräume und öffne Horizonte. "Heute", bestätigt Togay, "steht die Idee der Nation im Vordergrund", in der Praxis aber bedeute das keineswegs, dass im Land eine gleichgeschaltete Kultur existiere: "Die Kultur heute in Ungarn ist nicht homogen", sagt er.
Die Spielregeln
Für den Dirigenten Ivan Fischer besteht genau darin die Hauptaufgabe der Kunst und der Künstler: gegen die Gleichschaltung zu arbeiten. "Ein Künstler darf nie opportunistisch werden, denn dann hat er seine Glaubwürdigkeit nicht mehr", so Fischer. Der Künstler müsse kritisieren, das sei seine Hauptaufgabe, aber "der Politiker muss Kritik ertragen können. Politiker, die Kritik ertragen, sind die guten Politiker, weil sie auch manchmal Zweifel zugeben, nicht so fanatisch glauben, dass alles richtig ist, was sie machen", betont er gleichzeitig.
Denn "Politiker, die Kritik nicht ertragen können, sind die gefährlich, weil sie so voll sind von ihren eigenen Ideen, dass sie lieber die Kritik zum Verstummen bringen möchten." Seine Schlussfolgerung: "Man muss diese Spielregeln beibehalten: Kunst kritisiert – Politiker müssen das ertragen", sagt der weltweit erfolgreiche Dirigent aus Budapest.
Autro: Zoran Arbutina
Redaktion: Robert Schwartz