Ungarns Dilemma: Arbeit oder Migration
5. August 2016Hunderte Gäste kommen jeden Tag in den Bacardi Club, um dort Burger und Pizza zu essen. Das Lokal liegt an einem der beliebtesten ungarischen Strände - in Siofok am Balaton, zu deutsch Plattensee, dem größten See in Mitteleuropa. Im Herzen von Ungarns größtem Touristengebiet sollte das Geschäft des Bacardi Club eigentlich gut laufen. Stattdessen ringt er ums Überleben.
Das Problem ist nicht die Anzahl der Gäste - sondern die Zahl die Bediensteten. "Wir haben jetzt fünf Kellner, aber das reicht nicht. Wir brauchen einen oder zwei mehr." Die Inhaberin des Bacardi Clubs, Benigna Nemeth, erzählt, sie habe bereits das Internet durchforstet, auf Facebook gesucht und Anzeigen aufgegeben - alles ohne Erfolg. "Wir können kein gutes Personal finden. Ich habe alles versucht", sagt sie der DW.
Benigna Nemeth ist nicht die Einzige mit diesem Engpass. Ungarn sieht sich einem enormen Mangel an Arbeitskräften gegenüber. Gut 35.000 Jobs sind in diesem Jahr bisher unbesetzt.
"Einwanderung wichtig"
Ein ungarischer Unternehmensverband stellte der Regierung jüngst ein paar Möglichkeiten vor, um die Situation zu verbessern - inklusive der Option, ausländische Arbeiter ins Land zu holen. "Wir glauben, dass wir auch fähige Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchen. Übergangsweise oder vielleicht sogar dauerhaft wäre Einwanderung sehr wichtig für Ungarn", meint Ferenc Rolek, der Vizepräsident der Konföderation Ungarischer Arbeiter und Unternehmer. Jedes Jahr sinkt das Angebot an potentiellen Arbeitskräften um 40.000 bis 50.000 Menschen. Bleibt es bei dieser Entwicklung, fehlten in zehn Jahren rund eine halbe Million Arbeiter, warnt Rolek.
Der Hauptgrund dafür liegt in der demographischen Entwicklung. Eine niedrige Geburtenrate hat in den vergangenen Jahrzehnten die Einwohnerzahl stetig sinken lassen. Ungarn, die für eine bessere Bezahlung in andere EU-Länder abgewandert sind, haben diesen Trend zusätzlich verstärkt. Im Jahr 2011 lebten erstmals seit über 50 Jahren weniger als zehn Millionen Menschen in Ungarn.
Zunächst unterstützte Wirtschaftsminister Mihaly Varga die Idee, verstärkt ausländische Beschäftigte einzustellen. Staatlichen Medien gegenüber sprach er sogar explizit von Personen aus Nicht-EU-Staaten. Darauf stürzte sich die nationale Presse: Sie erinnerte die Regierung in Budapest daran, dass sie nicht einmal ein Jahr zuvor einen Zaun gebaut hatte, um Flüchtlinge daran zu hindern, ins Land zu kommen oder über Ungarn weiter in wohlhabendere EU-Länder zu reisen.
Populismus oder Pragmatismus?
In der Tat wird die ungarische Regierung nicht müde, öffentlich einen Zusammenhang zwischen Einwanderung und Terrorismus herzustellen. Im Oktober wird es darüber hinaus ein Referendum geben, in dem die Bevölkerung entscheiden soll, ob sich Ungarn zukünftig an der Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU beteiligen soll. Ministerpräsident Viktor Orban erklärte in diesem Zusammenhang sogar, die ungarische Unabhängigkeit werde nur durch ein "Nein" in der Abstimmung gewahrt.
Am Tag nach Vargas Kommentar veröffentlichte sein Ministerium eine Stellungnahme, in der es heißt: "Migration ist nicht die Antwort auf Arbeitskräftemangel." Die Medien hätten seine Aussage missverständen. Vielmehr werde es der Wirtschaftsminister nicht zulassen, dass "Massen ungelernter und unwissender Migranten" nach Europa kämen. Nichtsdestotrotz unterstütze man für gewisse Branchen die Einreise gut ausgebildeter Personen.
Dirk Wölfer von der Deutschen Handelskammer in Budapest erklärt, deutsche Unternehmen - die in Ungarn etwa ein Viertel aller ausländischen Investitionen tragen - grenzten ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten ein, weil Arbeitskräfte fehlten. "Auf lange Sicht gesehen überlegt man sich, ob man genügend fähige Arbeitskräfte zur Verfügung hat, bevor man investiert und einem dann das Personal fehlt", sagt Wölfer der DW.
"Anpassung unerlässlich"
Der Vorschlag der Konföderation Ungarischer Arbeiter und Unternehmer sieht vor, bevorzugt solche Migranten ins Land zu lassen, die sich kulturell integrieren können. "Wenn jemand völlig anders ist, die Gesetze und die herrschende Disziplin nicht akzeptieren will oder kulturell einfach nicht fähig oder willens ist, sich zu integrieren, ist es schwierig, ein Unternehmen mit dieser Person zu führen", erläutert Vizechef Rolek.
Folgt man dieser Argumentation, wäre es am sinnvollsten, Migranten aus den Nachbarstaaten anzulocken. Viele Menschen dort haben ungarische Wurzeln. Das geht zurück auf einen Vertrag aus dem Jahr 1920, mit dem Ungarn Teile seines Staatsgebiets an Serbien, die Ukraine, Rumänien und die Slowakei abtreten musste.
Experten empfehlen der ungarischen Regierung jedoch, weiter zu schauen als bis zu den unmittelbaren Nachbarn. Martin Kahanec ist Professor für Staatswissenschaft an Ungarns Central European University, wo er sich auf Arbeitsmarktökonomie und Migration spezialisiert hat. Seiner Meinung nach können sich Migranten, die einen ähnlichen kulturellen Hintergrund wie die Ungarn haben, zwar leichter integrieren. Sie verfügten jedoch nicht über die Qualifikationen, die der ungarischen Wirtschaft fehlten. "Einwanderer aus entfernten Kulturen und Ländern haben womöglich größere Schwierigkeiten, sich zu integrieren, bringen dafür aber Fähigkeiten mit, die zu mehr Dynamik führen", meint Kahanec. Das wiederum eröffne neue ökonomische Möglichkeiten.
Keine nationale Lösung
Einig sind sich alle, dass die Ungarn besser ausgebildet werden müssen, damit die Arbeitnehmerschaft wieder wächst. Vor allem Roma sind häufig arbeitslos. Die ethnische Minderheit sieht sich in Ungarn einer weitverbreiteten Diskriminierung gegenüber. Der ungarische Unternehmerverband schlägt deshalb zusätzlich vor, Roma besser zu integrieren und ihre Ausbildung zu verbessern.
All diese Ideen will die Konföderation Ungarischer Arbeiter und Unternehmer im September mit der Regierung diskutieren. Rolek betont: "Wir glauben immer noch, dass wir der Nachfrage nach Arbeitskräften nicht angemessen begegnen können, selbst wenn wir alle Ressourcen im Land nutzen." Eine Lösung gebe es nicht innerhalb der ungarischen Staatsgrenzen.